Montag, Oktober 7

Die Weltspiele des Behindertensports sind seit je eng mit bewaffneten Konflikten verbunden. In Paris nehmen viele ukrainische Parasportler teil – sie fordern den Ausschluss der russischen und weissrussischen Athleten.

Fast ein Jahr lang war Dmitro Melnik für das ukrainische Militär an der Kriegsfront. In der Nähe der östlichen Stadt Wowtschansk sass er in einem Lagerhaus und steuerte bewaffnete Drohnen auf russische Truppen, manche seiner Schichten dauerten achtzehn Stunden. Doch nun kann Melnik den Krieg für ein paar Tage hinter sich lassen. Er nimmt mit den ukrainischen Sitzvolleyballern an den Paralympics in Paris teil.

Melnik, 44, hat seine Behinderung seit dem 18. Lebensjahr. Er war von einem Balkon gestürzt, brach sich dabei Becken und Hüfte, sein linkes Bein ist zehn Zentimeter kürzer als das rechte. Nach der langen Rehabilitation begann Melnik mit Sitzvolleyball. 2016 nahm er mit der Ukraine an den Paralympics in Rio teil. Der Sport war sein Lebensmittelpunkt – bis zum Kriegsbeginn 2022.

Seither wollte sich Melnik mehrfach der ukrainischen Armee anschliessen. Doch wegen seiner Behinderung wurde er immer wieder abgelehnt. Er liess sich auf eigene Kosten zum zivilen Drohnenpiloten ausbilden und wurde im März 2023 schliesslich doch noch angenommen. Zuletzt an der Front trainierte er Aufschläge und Schmetterbälle an der Ziegelwand eines alten Bauernhauses.

In Paris nehmen 98 «neutrale Athleten» aus Russland und Weissrussland teil – das stört die Ukrainer

Rund 4400 Sportlerinnen und Sportler aus 167 Ländern nehmen ab Mittwoch an den 17. Sommer-Paralympics teil. Viele von ihnen leben seit der Geburt mit einer Behinderung. Andere erkrankten im Laufe ihres Lebens oder mussten sich nach Unfällen Gliedmassen amputieren lassen.

Doch in die Biografien vieler Teilnehmer haben sich auch Konflikte eingeschrieben. Zahlreiche Athleten wurden einst als Soldaten verwundet, andere betrachten ihren Sport noch immer als patriotische Pflicht. Die Weltspiele des Behindertensports sind jedenfalls so stark mit dem Krieg verbunden wie kaum eine andere Sportbewegung.

Besonders sichtbar ist das in der Ukraine. Laut Waleri Suschkewitsch, dem Präsidenten des Nationalen Paralympischen Komitees, sollen die Wohnungen und Häuser von 100 ukrainischen Paralympioniken zerstört worden sein. Ihr Hauptquartier und ihr Trainingszentrum auf der Krim werden nach der Besetzung auch von russischen Soldaten für Sport genutzt. Für den Funktionär Suschkewitsch und den Volleyballer Melnik ist es unerträglich, dass in Paris 98 «neutrale Athleten» aus Russland und Weissrussland an den Paralympics teilnehmen werden. Offiziell haben diese keine Verbindung zum Sicherheitsapparat von Wladimir Putin.

Die ukrainischen Paralympioniken recherchieren allerdings seit mehr als zwei Jahren, um das Gegenteil zu beweisen. Laut Suschkewitsch ist der Behindertensport in Russland eine wichtige Säule in der Rehabilitation verwundeter Soldaten. Dafür wurde in der besetzten Region Donezk offenbar eine neue Sportorganisation gegründet. In Weissrussland soll ein paralympischer Schwimmer sogar an der Entführung ukrainischer Kinder beteiligt gewesen sein.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass einige der 140 ukrainischen Sportler, die nun in Paris teilnehmen, von einem «Kampf» um Medaillen und einer «Frontlinie in der Arena» sprechen. Unter dem langjährigen Parlamentsabgeordneten Suschkewitsch, der noch in der Sowjetunion mit dem Schwimmen begonnen hatte, ist in der Ukraine ein Netzwerk für Behindertensport entstanden: mit Schulen, Krankenhäusern, Vereinen. An den vergangenen zehn Paralympics, in Winter und Sommer, belegten die Ukrainer im Medaillenspiegel immer mindestens Rang zehn. In Rio 2016 landeten sie auf dem dritten und in Tokio 2021 auf dem sechsten Platz.

Die USA fördern ihre Kriegsversehrten am stärksten

In den kommenden Jahren dürfte die Zahl der ukrainischen Paralympioniken, deren Behinderung aus dem Krieg resultierte, weiter steigen. Und auch darüber hinaus lässt sich die Konfliktgeschichte einiger Länder in paralympischen Disziplinen ablesen. In Rwanda mussten nach dem Genozid 1994 viele verletzte Tutsi mit Amputationen leben. Einige von ihnen begründeten eine Tradition im Sitzvolleyball. Das rwandische Frauenteam hat sich nun für Paris qualifiziert. Bei den Männern ist Bosnien und Herzegowina vertreten. Nach dem Krieg in den 1990er Jahren wurde Sitzvolleyball auch dort zu einer geachteten Sportart.

Doch niemand fördert seine Kriegsverletzten so sehr wie die USA. Soldaten, die im Irak oder in Afghanistan verwundet wurden, können mit Organisationen wie Operation Rebound im Sport aktiv werden. Das Verteidigungsministerium, das Kriegsveteranenministerium und Dutzende private Organisationen stellen Förderungen in Millionenhöhe bereit. Die Veteranen, die für die Paralympics infrage kommen, können sich häufig ganz auf ihren Sport konzentrieren. Sie sind gegenüber denjenigen im Vorteil, die nach einem Unfall oder einer Erkrankung auf das reformbedürftige Gesundheitssystem angewiesen sind.

Bei den vergangenen drei Winter-Paralympics hatten mehr als 20 Prozent der amerikanischen Athleten eine Vergangenheit im Militär, bei den vergangenen drei Sommerspielen waren es rund 10 Prozent. An diesem System orientieren sich vor allem Athleten in Grossbritannien und Kanada. Regelmässig messen sie sich bei eigenen Wettbewerben, zum Beispiel an den Warrior Games und den Invictus Games, die 2014 von Prinz Harry gegründet wurden. Etliche von ihnen sind nun auch in Paris dabei.

Der Neurologe Ludwig Guttmann gilt als Vordenker der Paralympics

Damit kehren die Paralympics auch zu ihren Wurzeln zurück. Es war der deutschstämmige Neurologe Ludwig Guttmann, der während des Zweiten Weltkrieges in der englischen Kleinstadt Aylesbury die Behandlung von Querschnittgelähmten revolutionierte. Er brachte eine Rundumversorgung auf den Weg und animierte die Versehrten zu mehr Bewegung. Im Juli 1948, am Eröffnungstag der Olympischen Spiele von London, organisierte Guttmann im Park seines Krankenhauses einen Wettbewerb im Bogenschiessen für sechzehn Kriegsversehrte. Es war das Fundament der Paralympics, die seit 1960 alle vier Jahre stattfinden.

An das Vermächtnis des jüdischen Mediziners Guttmann, der vor den Nazis geflohen war, wird in diesen Tagen vor allem in Israel erinnert. Seit dem 7. Oktober wurden dort laut dem israelischen Verteidigungsministerium mehr als 10 000 israelische Soldaten medizinisch behandelt, 37 Prozent von ihnen mit Verletzungen an Armen und Beinen. 51 Prozent der Verwundeten sind unter 30 Jahre alt.

Im historischen Medaillenspiegel der Sommer-Paralympics belegt das kleine Israel Rang fünfzehn. Die beste Platzierung gelang bei den Spielen 1976 in Toronto: Rang drei mit neunundsechzig Medaillen. Damals nahmen für Israel etliche Sportler teil, die als Soldaten im Sechstagekrieg und im Jom-Kippur-Krieg verwundet wurden. Unter ihnen war auch Moshe Matalon, früher Fallschirmjäger und später Kugelstosser. Mittlerweile steht er dem Nationalen Paralympischen Komitee Israels vor.

Matalon ist seit Jahrzehnten politisch aktiv, eine Weile sass er im israelischen Parlament. In den vergangenen Monaten hat er sich darum bemüht, die Militärkrankenhäuser mit Sportgeräten auszustatten. Matalon vernetzt die verwundeten Soldaten mit Therapeuten, Trainern und Prothese-Experten. Er möchte, dass sie auch durch Sport wieder in den Alltag zurückfinden. Und vielleicht nehmen die Soldaten dann an den Paralympics 2028 teil. Der inoffizielle Titel seines Projektes lautet «von Gaza nach Los Angeles».

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