Mittwoch, Oktober 2

Farbtupfer können Welten erschliessen, die Demenzkranken sonst verschlossen bleiben. Besuch einer besonderen Werkstatt in Zürich.

Vreni blickt konzentriert auf das weisse Papier vor sich. In ihrer Rechten hält sie einen Pinsel. Dann hebt sie langsam die Hand und malt einen Tupfen. Noch einen. Und noch einen. Von weitem verschmelzen die bunten Punkte zu einer Bergkette. «Die Berge von Lauterbrunnen», sagt sie in breitem Berndeutsch. «Dort komme ich her.»

Vreni ist 93 Jahre alt und an Demenz erkrankt. Genauso wie Saab, Beatrice und Friedo, die in der geräumigen Werkstatt des Rietberg-Museums in Zürich Enge zusammen an einem grossen Holztisch sitzen und ebenfalls malen. In den Regalen an den Wänden stehen Keramikschalen und Kisten mit Bastelmaterialien und Farben.

Jeden Freitagnachmittag trifft sich hier eine Gruppe von Menschen mit Demenz, um im nahen Rieterpark spazieren zu gehen, gemeinsam zu essen, das Museum zu besuchen – und in der Werkstatt zu malen. Man ist per du. Wer nicht malen will, beschäftigt sich anderweitig. So wie Peter und Linda, die vor der Werkstatt unter dem Vordach sitzen. Das Wetter ist etwas zu kühl für Juni, es nieselt leicht. Doch das stört die beiden nicht. Sie trinken Kaffee und Schwarztee und essen Guetzli. Er sei kein guter Maler, sagt Peter. «Ich lese lieber.»

Einige Teilnehmer wohnen in Pflegeheimen. Andere können ihren Alltag selbständig bestreiten und leben zu Hause. Begleitet werden die dementen Museumsbesucher von drei Fachpersonen. Das Angebot nennt sich «Atelier Mobile», durchgeführt wird es vom Verein «Treffpunkt Demenz und Kultur».

Einzigartig – auch mit der Krankheit

Demenz umfasst mehr als 100 verschiedene Krankheiten, die die Funktion des Gedächtnisses beeinträchtigen. Übersetzt aus dem Lateinischen bedeutet der Begriff so viel wie «ohne Geist».

Andrea Studer hingegen schüttelt den Kopf. «Menschen mit Demenz sind mehr als nur eine Hülle. In ihnen steckt viel Persönlichkeit», sagt die Kunsttherapeutin und Leiterin des Ateliers. Sie begleitet Vreni und die anderen Werkstattbesucher an diesem Nachmittag. Jede Person sei einzigartig, auch mit der Krankheit, sagt Studer. Das zeigten die Bilder der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die bis Ende Juni im grünen Anbau des Museums ausgestellt sind.

Tatsächlich unterscheiden sich die Gemälde stark in ihren Stilen und Motiven: Menschen, Tiere, abstrakte Formen – geometrisch oder geschwungen, sich rhythmisch wiederholend, in Acrylfarbe, Neocolor, Bleistift. Einig sind sich die Urheber höchstens in der Farbwahl: Warme, leuchtende Farben wie Gelb, Rot und Orange stehen hoch im Kurs, dazwischen glänzt auch einmal Hellgrün.

Katharina Müller arbeitet seit Jahren mit Menschen mit Demenz. Sie hat das Malatelier und den erwähnten Verein dahinter gegründet. Die Pflegefachfrau und Sozialarbeiterin kämpft dafür, dass demente Personen eine Abwechslung im Alltag erhalten und stärker am öffentlichen Leben teilhaben können. Solche Angebote gebe es zu wenige in der Schweiz, sagt Müller.

Kultur mit mehreren Sinnen erleben

In der Werkstatt wird Vreni plötzlich unruhig, sie schaut sich um, scheint etwas zu suchen. «Wo ist mein Rucksack?», fragt sie. «Den hatte ich doch dabei.» Müller reagiert sofort und versichert der 93-Jährigen, dass der Rucksack zu Hause sei.

«Man muss sehr präsent sein», sagt Müller. «Es kann schnell etwas passieren; jemand sucht etwas und ärgert sich dann, weil er oder sie es nicht findet.»

Bevor es in die Ausstellung geht, erzählt eine Kunstvermittlerin des Museums Näheres zum Leben der Arhuaco, eines indigenen Volkes im Norden Kolumbiens. Sie reicht ein Buch mit Fotografien herum, die einen Einblick in das Leben der Ur-Gemeinschaft in Südamerika geben. Dann erhält jede Person aus der Gruppe ein Stück Baumwolle. Sie sollen sie spüren und zu mehreren kleinen Kügelchen formen – ein traditionelles Ritual der Arhuaco.

Dann schauen sich Vreni und die anderen Teilnehmer des Ateliers die Ausstellung «Mehr als Gold – Glanz und Weltbild im indigenen Kolumbien» an, die derzeit im Museum Rietberg zu sehen ist. Die Kunstvermittlerin erzählt ihnen mehr darüber, die Gruppe hört gespannt zu, stellt Fragen, diskutiert. Auch Vreni lauscht aufmerksam, das Buch über die indigenen Völker liegt aufgeschlagen auf ihrem Schoss.

«So, jetzt langt’s, fangen wir an zu malen»

Etwa eine Stunde später kehrt die Gruppe in die Werkstatt zurück. Sie machen Körperübungen, stampfen mit den Füssen auf den Boden, erst mit den Fersen, dann mit den Fussballen. «Das soll sie aktivieren», sagt die Kunsttherapeutin Andrea Studer.

Vreni winkt ab, sie will nicht mitmachen. Die Gruppe hingegen macht weiter, klopft erst die Oberkörper ab, dann die Arme. Schliesslich steigt Vreni doch noch mit ein und beginnt zu singen. Plötzlich sagt sie: «So, jetzt langt’s, fangen wir an zu malen.»

Welches Sujet die Teilnehmenden malen, ist egal. «Wichtig ist, dass wir sie machen lassen, ohne dass wir ein Thema vorgeben», sagt Studer.

Die einzige Regel des Nachmittags lautet: keine Angehörigen. «Das ist nicht nur eine Entlastung für die Familien, sondern es bietet auch Freiraum für die Betroffenen», sagt Katharina Müller. «Das wird oft vergessen.» Dadurch entstehe eine bessere Gruppendynamik. Das bestätigt auch Studer: «Viele möchten ihre dementen Angehörigen zwar unterstützen, tendieren aber dazu, zu urteilen, ob das, was sie gemalt haben, schön ist. Oder sie sagen: ‹Ah, das kann er nicht mehr.›» So gehe der spontane Ausdruck verloren.

Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Malateliers kehren müde, aber glücklich nach Hause zurück. Einmal, erzählt Studer, habe ein Besucher gesagt: «Ach, an diesen Tagen bin ich ein ganzer Mensch.»

Vreni malt die nächsten Punkte, die die Bergkette säumen. Sie ist fokussiert und ruhig, wirkt zufrieden. Und ganz bei sich selbst, zumindest in diesem Moment.

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