Österreich lebt seit langem über seine Verhältnisse. Das Land braucht grundlegende Reformen. Ob sie die künftige Regierung angehen wird, ist fraglich.
Österreich bekundet grosse Mühe damit, eine neue Regierung zu finden. Aus der angestrebten «Zuckerl»-Koalition ist nichts geworden. Am vergangenen Wochenende wurde klar, dass sich die bürgerlich-konservative ÖVP, die linke SPÖ und die liberale Partei Neos nicht zu einem Regierungsbündnis zusammenraufen können. Nun ist die rechtspopulistische FPÖ mit der Regierungsbildung betraut worden – ein Novum für Österreich mit offenem Ausgang.
Die politische Krise hat vor allem wirtschaftliche Ursachen. Die Parteien der geplanten «Zuckerl»-Koalition konnten sich nicht über das Staatsbudget und wirtschaftspolitische Fragen einigen. Es offenbarte sich ein fundamentales Zerwürfnis. Die ÖVP und die SPÖ hätten gerne auf zwei alte Rezepte gesetzt: Sich-Durchwursteln und Probleme mit Geld zudecken. Aber die reformorientierten Neos wollten da nicht mitmachen. Aus ihrer Sicht kann sich Österreich ein «Weiter wie bisher» nicht leisten.
An welchen Wirtschaftsproblemen krankt Österreich? Und wie sieht die Lage im Vergleich mit der Schweiz und Deutschland aus? Ein Überblick in vier Grafiken.
Österreich lebt über seine Verhältnisse
Die Regierungsbildung wird durch ein akutes Problem überschattet: Österreichs Staatsdefizit ist jüngst über den Maastricht-Grenzwert von 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) gestiegen. Dem Land droht deshalb ein EU-Defizitverfahren. Die künftige Regierung muss einen Weg finden, wie sie den Staatshaushalt wieder in Ordnung bringt. Das birgt Sprengkraft: Die Verhandlungen zur «Zuckerl»-Koalition scheiterten an der Frage, wo Ausgaben gekürzt werden sollen und ob es auch zusätzliche Steuereinnahmen braucht.
Die Probleme reichen aber tiefer. Österreich lebt seit langem über seinen Verhältnissen. Der Staatshaushalt ist notorisch defizitär. Nur in den Boomjahren 2018/19 gelang es der damaligen ÖVP-FPÖ-Regierung, einen kleinen Überschuss zu erzielen. Es war das erste Mal seit 50 Jahren.
Seit der Corona-Krise gibt der österreichische Staat das Geld wieder mit beiden Händen aus. Die Krisenhilfen fielen im internationalen Vergleich sehr grosszügig aus. Nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges wurden sie nahtlos fortgesetzt, um den Energiepreis- und Inflationsschock für die Wirtschaft und die Bevölkerung abzufedern. Dabei erfolgten die Hilfen meist mit der Giesskanne und waren nicht auf Bedürftige beschränkt. Der damalige Finanzminister Magnus Brunner räumte vor einem Monat ein: «Wir haben zu viel ausgegeben.»
Die Schweiz und Deutschland zeigen, dass es anders geht. Der Schweizer Staat erzielt in normalen Zeiten einen Überschuss – um sich in schwierigen Zeiten wie der Corona-Krise ein Defizit leisten zu können. Der Grund für diese Sparsamkeit ist die Schuldenbremse, die die Bundespolitiker seit 2003 zu ausgeglichenen Haushalten zwingt.
Auch Deutschland kennt seit 2009 eine Schuldenbremse. Diese hat in den 2010er Jahren die Defizite im Staatshaushalt beseitigt. Doch seit der Corona-Krise hat die deutsche Regierung die Schuldenregel nur noch mit Tricks wie Sonderhaushalten einhalten können. Jüngst sind die Spannungen zu gross geworden: Die deutsche Ampel-Koalition ist an der Budgetfrage zerbrochen.
Der Staat ist zu gross
Österreich hat nicht nur einen defizitären Staat, sondern es leistet sich auch einen ausgesprochen grossen Staat. Dies zeigt sich anhand der Staatsausgabenquote. Sie liegt seit Jahrzehnten bei mehr als der Hälfte der Wirtschaftsleistung. Im Jahr 2024 lag die Quote bei 53 Prozent des BIP.
Selbst das ebenfalls staatsgläubige Deutschland gibt mit derzeit rund 49 Prozent etwas weniger aus. Deutlich kleiner ist der Staat in der Schweiz mit 32 Prozent des BIP. Allerdings liegt das auch daran, dass in der Schweizer Staatsquote die Zwangsabgaben für die Krankenkasse und die Pensionskasse nicht berücksichtigt werden.
Der Staat müsse sich von der Wiege bis zur Bahre um die Menschen kümmern – diese Sicht ist nicht nur im «roten» Wien verbreitet. Bis weit in bürgerliche Kreise hinein hält man es in Österreich für normal, dass der Staat alles und jeden finanziell fördert.
Im Kleinen zeigt sich das an absurd anmutenden Subventionen. So führte die Regierung 2022 einen «Reparaturbonus» ein, der die Lebensdauer von Elektrogeräten verlängern soll. Seit dem Herbst gilt er auch für Fahrräder. Wer etwa einen platten Reifen ersetzen muss, bekommt die Hälfte der Kosten bis maximal 200 Euro erstattet – selbst wenn man in der Garage noch einen Ferrari stehen hat.
Im Grossen zeigt es sich etwa an einem überdimensionierten Pensionssystem. Die Österreicherinnen und Österreicher gehen im internationalen Vergleich früh in Rente, die Männer durchschnittlich mit rund 62 Jahren und die Frauen mit 60 Jahren. In kaum einem anderen Land geniessen die Menschen einen längeren Ruhestand. Die Finanzprobleme des Bundes rühren auch daher, dass das defizitäre Pensionssystem den Haushalt immer stärker belastet. Doch die Politik schreckt seit Jahren vor den nötigen Reformen zurück.
Die Kehrseite des grossen Staates ist eine hohe Steuerbelastung. Bürger und Unternehmen werden massiv zur Kasse gebeten. Die Einnahmen des Staates machen in Österreich rund 50 Prozent des BIP aus. Es ist deshalb keine Option, die Steuern und Abgaben noch stärker zu erhöhen, um die gegenwärtigen Budgetdefizite zu beseitigen. Vielmehr muss die künftige Regierung den Staat kleiner machen.
Die Wirtschaft steckt in einer hartnäckigen Flaute
Zur schlechten Stimmung im Land trägt die hartnäckige Rezession bei. Seit 2022 ist das reale BIP geschrumpft, es ist die längste rezessive Phase der Nachkriegszeit. Für 2025 wird nur die Rückkehr zu einem schwachen Wachstum erwartet.
Österreich steckt in einer ähnlichen Flaute wie Deutschland. Dort ist die Krise allerdings noch ausgeprägter: Die deutsche Wirtschaftsleistung liegt immer noch kaum höher als vor der Corona-Krise, während es in Österreich immerhin einen kurzen Nach-Corona-Boom gab. Doch seit 2022 plagen die beiden Länder ähnliche Probleme. Die Industrie, die sowohl in Deutschland wie in Österreich das Rückgrat der Wirtschaft bildet, wurde durch die Turbulenzen im Zuge des Ukraine-Krieges hart getroffen.
Zu Verwerfungen hat auch die hohe Inflation geführt. Österreich weist hier eine Besonderheit auf: Die Löhne sind für fast alle Beschäftigten kollektivvertraglich geregelt und werden automatisch an die Inflation angepasst. Das hat dazu geführt, dass die Löhne in den vergangenen Jahren doppelt so stark gestiegen sind wie im Euro-Raum.
Was die Arbeitnehmer freut, ist für die Unternehmen zum Problem geworden. Sie kämpfen mit hohen Lohnstückkosten. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Österreich hat gelitten. Im dafür relevantesten Ranking des Lausanner Instituts IMD liegt das Land nur noch auf Platz 26 von 67 Ländern (Schweiz 2, Deutschland 24).
Immer wieder werfen konkrete Fälle ein Schlaglicht auf die Standortprobleme. So musste der bekannte Motorrad- und Fahrrad-Hersteller KTM Ende 2024 Insolvenz anmelden. Die «Echten Salzburger Mozartkugeln» werden künftig wohl in Tschechien produziert, weil es in Österreich zu teuer geworden ist.
Arbeiten lohnt sich zu wenig
Der Wirtschaftsstandort leidet ausserdem darunter, dass die Menschen immer weniger arbeiten wollen – obwohl eigentlich Arbeitskräftemangel herrscht. Österreich hat die Teilzeitbeschäftigung zu attraktiv gemacht – oder vielmehr ein Vollpensum zu unattraktiv. Fast ein Drittel der Erwerbstätigen arbeitet mittlerweile nur noch Teilzeit. Das ist der zweithöchste Wert in der EU. Bei den Frauen sind es sogar mehr als die Hälfte.
Das liegt vor allem in ländlichen Gebieten oft am unzureichenden Angebot an Kinderbetreuung. Doch auch die hohen Steuern und Sozialabgaben sowie Fehlanreize im Sozialsystem halten viele davon ab, ihr Pensum zu erhöhen. Wer seine Wochenstundenzahl von 20 auf 40 verdopple, verdiene netto nur 68 Prozent mehr, rechnet etwa die liberale Denkfabrik Agenda Austria vor.
Der Teilzeit-Boom ist nicht nur ein österreichischen Phänomen. Er ist auch in der Schweiz und in Deutschland zu beobachten. Doch insgesamt sind die Schweizer immer noch die Fleissigsten: Sie arbeiten im Durchschnitt 1525 Stunden im Jahr. In Österreich sind es 1390 Stunden. Am arbeitsscheusten sind die Deutschen mit einer Jahresarbeitszeit von 1300 Stunden. In Deutschland ist die Steuer- und Abgabenlast auf den Löhnen ähnlich hoch wie in Österreich.
Wird ein FPÖ-Kanzler etwas ändern?
Ein «Rendez-vous mit der Realität» und «Schluss mit lustig», fordern Österreichs Wirtschaftsforscher angesichts der Misere. Ob sich eine mögliche Regierung aus FPÖ und ÖVP eher zu den dafür nötigen Reformen durchringen kann als das gescheiterte Dreierbündnis, ist aber fraglich.
Die Freiheitlichen legten im Spätsommer ein in wirtschaftlichen Fragen überraschend liberales Wahlprogramm vor, das unter anderem eine Senkung der Abgabenquote und einen Bürokratieabbau vorsieht. Diese Forderungen teilt die ÖVP. Beide Parteien blieben jedoch bisher äusserst vage, wie sie solche Entlastungen umsetzen wollen – zumal es auch ohne sie schon einen hohen Sparbedarf von allein in diesem Jahr rund 6 Milliarden Euro gibt.
Mehr noch als die ÖVP befindet sich die FPÖ in einem Dilemma: Sie bekennt sich zwar zu einem wettbewerbsfähigen Standort und zum Sanierungsbedarf, präsentiert sich aber auch als die Partei der einfachen Bevölkerung. Sie wird vor allem von Personen mit niedrigem und mittlerem Einkommen gewählt. Dieser Klientel wollen die Freiheitlichen grosszügige Geschenke verteilen. Einschnitte im Sozialsystem sollen primär Ausländer spüren. Die Selbstbezeichnung «soziale Heimatpartei» ist Ausdruck davon und wurde einst vom jetzigen Parteichef Herbert Kickl ersonnen. Allerdings sind Kürzungen bei Ausländern allein rechtlich schwer umsetzbar, und sie bringen kaum Einsparungen.
Es ist ein heikler Zeitpunkt, zu dem die FPÖ von der Radikalopposition in die Verantwortung wechselt. Der Rollentausch wird eine Bewährungsprobe.