Mittwoch, November 27

Der nächste amerikanische Präsident, der EM-Finalgewinner, die Existenz von Aliens: Der aufstrebende Prognosemarkt Polymarket erlaubt Nutzern eine breite Anzahl Wetten und höchste Transparenz.

Wer gewinnt den EM-Final? Antwort: Spanien mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 Prozent. Wer wird der nächste Präsident der USA? Donald Trump mit einer Wahrscheinlichkeit von 61 Prozent. Welcher Kinofilm spielt 2024 am meisten Geld ein? «Inside Out 2» mit einer Wahrscheinlichkeit von 74 Prozent.

Alle diese Einschätzungen stammen vom Prognosemarkt Polymarket. Es handelt sich um Meinungen, die ein gewisses Gewicht haben. Denn an den Prognosen wirken Teilnehmer mit, die Geld auf den Ausgang der jeweiligen Fragestellung setzen. Und somit «skin in the game» haben, wie es auf Neudeutsch heisst.

Schwarmintelligenz

Solche Schwarmintelligenz-Prognosen sind teilweise präziser als Expertengremien oder Meinungsumfragen. Allerdings ist das bei weitem nicht immer der Fall: Den überraschenden Ausgang der französischen Wahlen von letztem Wochenende zum Beispiel haben die Kurse an den Prognosemärkten so wenig angezeigt wie die Wählerbefragungen.

Die Zuverlässigkeit der Resultate sei von mehreren Faktoren abhängig, sagt der Informatikprofessor Burkhard Stiller von der Universität Zürich: Das Anwendungsfeld und die Art des Ereignisses, die Anzahl Teilnehmer und deren Zusammensetzung. Und auch die Qualität der verfügbaren Informationen.

Die Parallelen zu herkömmlichen Finanzmärkten sind offensichtlich: Auch die Preise von Aktienbörsen spiegeln Zukunftserwartungen, den gegenwärtigen Wissensstand, aber auch starke Emotionen wie Angst und Gier.

Auch die Wissenschaft zeigt Interesse

Die Wissenschaft beschäftigt sich schon seit längerem mit Prognosen, die über Marktmechanismen zustande kommen. Die Victoria University of Wellington in Neuseeland betreibt seit 2014 sogar einen eigenen Handelsplatz für Meinungen namens Predictit. Es gibt eine Reihe weiterer Plattformen wie etwa Augur oder Gnosis.

Doch mit Polymarket könnte nun ein solcher Meinungsmarktplatz erstmals eine etwas breitere Öffentlichkeit ansprechen. Jüngst haben bekannte Technologie-Experten wie Peter Thiel oder Vitalik Buterin – er ist Mitgründer der Blockchain Ethereum – in Polymarket investiert.

Vor allem erreichte das Volumen auf dieser Plattform im Juni mit 111 Millionen Dollar einen neuen Höchststand. Im vergangenen Monat wurden zudem 35 000 neue Konten eröffnet. Das ist ein ermutigendes Zeichen, denn ohne Liquidität gibt es keine funktionierenden Marktplätze.

Meinungen werden zu Aktien

Auf Polymarket werden Meinungen rund um die Uhr gehandelt, wie Aktien. Das Orderbuch ist öffentlich einsehbar. Es handelt sich immer um binäre Wetten mit einem Ablaufdatum. Das heisst, sie treffen innerhalb des definierten Zeitraums ein oder eben nicht: Es gibt zum Beispiel sechs verschiedene Kontrakte zu dem Thema, ob die amerikanische Notenbank die Zinsen dieses Jahr senkt: Abgestuft von 0, 1, 2 , 3, 4, 5 und 6 oder mehr Zinsschritten.

Jede dieser einzelnen Prognosen kann spätestens nach der letzten Notenbanksitzung im Dezember mit richtig oder falsch beantwortet werden. (Am höchsten im Kurs steht derzeit die Erwartung von zwei Zinssenkungen in den USA.)

Eindeutige Resultate

Richtig oder falsch: Das trifft selbst auf so exotische Fragestellungen zu wie: «Werden die USA 2024 die Existenz von Ausserirdischen bestätigen?» Das geringe Volumen dieser Prognose-Aktie von 26 000 Dollar zeigt auch an, dass die Aussagekraft – die Teilnehmer sehen 6 Prozent Eintretenswahrscheinlichkeit – dann doch bescheiden ist.

Die Prognose-Aktien auf Polymarket haben einen Wert von 0,1 Cent bis 1 Dollar. Wer etwa am Freitagmorgen auf den EM-Gewinner Spanien gesetzt hat, musste dafür 60 Cents bezahlen, wer England favorisiert, riskiert 40 Cents. Geht die Wette auf, erhält man bei Verfall 1 Dollar. Verliert man sie, werden die Aktien am Sonntagabend wertlos, sobald das Resultat des EM-Finalspiels feststeht.

Polymarket setzt auf die Blockchain-Technologie und funktioniert weitgehend dezentral. Das hat für die Nutzer mehrere Vorteile: Man kann sich auf der Plattform anmelden, ohne irgendwelche Angaben über sich selbst machen zu müssen.

Ein- und Auszahlungen erfolgen mit dem Stablecoin USDC, dessen Wert 1:1 an den Wert des Dollars gebunden ist. Wer eine Überweisung auf die Plattform macht, erhält von Polymarket die Private Keys zu einem Ethereum-Konto – und bleibt somit im Besitz seines Geldes, selbst für den Fall, dass die Plattform untergehen sollte. Für eine transparente und korrekte Abwicklung garantieren sogenannte «smart contracts». Was, wie und wann geschehen wird, ist also für alle einsehbar – zumindest für alle, die mit Code etwas anzufangen wissen.

Ein gewollter Wildwuchs

Dezentral geregelt wird vor allem auch, welche Wetten überhaupt ins Angebot kommen. «Neue Märkte entstehen, wenn sich zwei oder mehrere Nutzer für ein- und dieselbe Fragestellung interessieren», sagt Burkhard Stiller. Es gebe keine zentrale Instanz, die das beschliesse. Ob diese Dezentralität eher ein Vor- oder ein Nachteil sei, kann der Wissenschafter nicht eindeutig beantworten.

Die fehlende zentrale Steuerung erklärt die teilweise kuriosen Kontrakte: Das Spektrum reicht von der Frage, ob der Musiker Kanye West seinen Beruf an den Nagel hängt, bis zur Wette, ob 2024 noch eine Atombombe hochgeht. Wäre Polymarket eine herkömmliche Firma, würde deren Management wohl bloss eine beschränkte Anzahl Wetten anbieten – jene, die am meisten Volumen versprechen.

So aber ist Polymarket (noch) keine Plattform, auf der sich zum Beispiel Unternehmen gegen gewisse Ereignisse absichern können oder auf der sich professionelle Anleger tummeln. Dazu fehlt meist die nötige Liquidität. Aber als Barometer für bevorstehende Ereignisse können Polymarket und Co. durchaus dienen. Ein Zeitvertreib für Spielernaturen sind sie ohnehin.

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