Bürokratieabbau gehört zu den Kernthemen der deutschen FDP und der möglichen nächsten Kanzlerpartei CDU. Doch schon die gescheiterte Ampelregierung hat sich daran die Zähne ausgebissen. Warum nur ist so schwer, was doch alle wollen?
Er fühle sich ein bisschen wie Sisyphos, der den Stein den Berg hochrolle. Wenn er oben angekommen sei, lächle ihn Ursula von der Leyen an und rolle den Stein wieder zurück, und zwar weiter ins Tal hinab, als er zuvor gewesen sei: Dergestalt beschrieb Marco Buschmann unlängst an einer Tagung seine Albträume. Damals sass er noch für die Liberalen als Justizminister in der deutschen Regierung. Inzwischen ist die «Ampel» Geschichte – das «Wirtschaftswende-Papier» des FDP-Chefs Christian Lindner, das den Bruch eingeleitet hat, forderte nicht zuletzt ein «sofortiges Moratorium zum Stopp aller neuen Regulierungen».
Vielköpfige Hydra
Buschmanns Stossseufzer bezog sich auf zwei konkrete Vorgänge. In diesem Herbst haben Bundestag und Bundesrat das «Bürokratieentlastungsgesetz IV» verabschiedet, für das er zuständig war. Es enthält eine Anzahl von Massnahmen wie die Abschaffung der Hotelmeldepflicht für deutsche Staatsangehörige oder die Reduzierung der Aufbewahrungspflichten für Buchungsbelege von zehn auf acht Jahre. Alle Einzelschritte zusammen sollen den Erfüllungsaufwand der Wirtschaft für die Umsetzung staatlicher Vorgaben um knapp eine Milliarde Euro pro Jahr reduzieren.
Doch fast zeitgleich hatte Buschmann ein Gesetz zur Umsetzung der neuen EU-Vorgaben zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (CSR-Richtlinie, CSRD) in nationales Recht in den Bundestag einzubringen – deshalb der Hinweis auf von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission. Es auferlegt Firmen ab einer gewissen Grösse erstmals – oder in grösserem Umfang als bisher – Berichtspflichten über soziale und ökologische Auswirkungen und Risiken ihrer Aktivitäten. Von der Regierung geschätzter Erfüllungsaufwand für deutsche Unternehmen: 1,6 Milliarden Euro pro Jahr ab 2028.
Die Parallelität der zwei Schritte illustriert, was Unternehmen und Bürger zunehmend frustriert: Die Bürokratie gleicht einer Hydra, dem vielköpfigen Ungeheuer der griechischen Mythologie. Schlägt man ihm einen Kopf ab, wachsen zwei neue nach.
Von Weber zu Kafka
Gleichwohl geht es nicht ohne Bürokratie. Im frühen 20. Jahrhundert zählte der Soziologe Max Weber zu ihren Merkmalen regelgebundenes, schriftliches und neutrales Verwaltungshandeln, das vor Willkür schützt. Doch schon damals beschrieb Franz Kafka ein Gegenbild: Die Protagonisten seiner Romane sehen sich einer absurden, sich verselbständigenden Bürokratie gegenüber.
Zwischen diesen beiden Polen, zwischen Schutz durch Regeln und Einengung der Freiräume für Innovation und Wettbewerb, oszilliert die Bürokratie bis heute.
Stellt man auf Umfragen ab, überwiegt in Deutschland inzwischen die Wahrnehmung einer kafkaesken Bürokratie. Für 60 Prozent der befragten Firmenchefs war bei der jüngsten Quartalsumfrage des Verbandes «Die Familienunternehmer» Bürokratie das wichtigste Investitionshemmnis.
In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des Arbeitgeberdachverbands BDA nannten 88 Prozent der befragten Unternehmen und 70 Prozent der Bürger – und damit deutlich mehr als noch 2022 – Bürokratieabbau auf die Frage, was wichtig sei, um Deutschland besser durch gegenwärtige und künftige Krisen zu führen.
«Nur noch Dokumentation»
«Wir sind alle nur noch mit Dokumentation beschäftigt und nicht mehr mit Wertschöpfung und Innovation», sagt Marie-Christine Ostermann, Präsidentin des Familienunternehmer-Verbandes und geschäftsführende Gesellschafterin von Rullko Grosseinkauf, im Gespräch. Für sie sind die CSRD und das Lieferkettengesetz typische Beispiele für den unverhältnismässigen Aufwand, den Dokumentationspflichten verursachen.
Rullko, ein Unternehmen mit rund 91 Millionen Euro Umsatz und 2oo Mitarbeitern, müsse mit Blick auf die Einführung der Nachhaltigkeitsberichterstattung eine zweite Person anstellen, die sich nur um Dokumentation kümmere. Zusätzlich falle viel zeitlicher Aufwand in sämtlichen Abteilungen an, und alle Führungskräfte hätten einschlägige Workshops absolvieren müssen. Im Gegensatz zu Konzernen hätten Mittelständler für solche Aufgaben eben nicht ganze Rechtsabteilungen.
Was die Daten sagen
Die Liste der Beispiele liesse sich fast endlos fortsetzen. Die Zunahme der Bürokratie lässt sich auch messen: Der nationale Normenkontrollrat (NKR), ein unabhängiges Expertengremium zur Beratung der Bundesregierung, erstellt jedes Jahr auf Basis offizieller Schätzungen einen Bericht, in dem er den jährlichen Erfüllungsaufwand addiert, den alle seit 2011 geschaffenen Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften bei Bürgern, Unternehmen und Verwaltung verursachen. Er erfasst alle Kosten, nicht nur jene von Berichtspflichten.
Dieser Aufwand ist bis zur Berichtsperiode 2023/24 (per Ende Juni) auf 27,1 Milliarden Euro gestiegen. Nach oben getrieben haben ihn zum Beispiel der gesetzliche Mindestlohn und das Heizungsgesetz. Zu (kleineren) Rückgängen geführt haben umgekehrt die Bürokratieentlastungsgesetze. Immerhin hat sich der Anstieg in letzter Zeit abgeflacht: Für die Wirtschaft ist der Aufwand in der jüngsten Periode sogar leicht gesunken. Dies wurde aber durch einen Anstieg für die Verwaltung überkompensiert.
Daneben weisen die NKR-Berichte den einmaligen Erfüllungsaufwand aus, den die Umstellung auf neue Vorgaben erfordert. Hier war das Jahr 2023 mit über 20 Milliarden Euro für Bürger, Wirtschaft und Verwaltung einsame Spitze, wozu insbesondere das Heizungsgesetz beigetragen hat.
In der jüngsten Abflachung des jährlichen Aufwands vermögen indessen weder Marie-Christine Ostermann noch Sabine Kuhlmann, Politik- und Verwaltungswissenschafterin an der Universität Potsdam sowie stellvertretende NKR-Vorsitzende, eine Trendwende zu erkennen. Angesichts all der bestehenden Bürokratietreiber glaube sie nicht, dass es zu einem nachhaltigen Abflachen der Kurve kommen werde, sagt Letztere im Gespräch.
Die Treiber der Bürokratie
Was sind diese Treiber? Bürokratien hätten generell die Tendenz, sich auszuweiten und ein Eigenleben zu führen, führt Kuhlmann weiter aus. Zudem würden auch neue Problemlagen wie Klimawandel oder künstliche Intelligenz zu neuen Regeln führen.
Doch in Deutschland käme eine legalistische Verwaltungsstruktur hinzu, die darauf beruhe, alles über kodifiziertes Recht zu regeln. Alles müsse gerichtlich überprüfbar sein, was den Verwaltungsgerichten eine starke Stellung verschaffe. Dies wiederum führe dazu, dass Verwaltungen Angst vor Entscheiden hätten, weil Gerichte diese umstossen könnten.
Laut Kuhlmann ist das in anderen kontinentaleuropäischen Ländern wie Frankreich ähnlich, während skandinavische und angelsächsische Staaten tendenziell weniger allumfassend und minuziös regulieren. In Deutschland komme ein Föderalismus hinzu, bei dem Bundesrecht in der Regel nicht durch den Bund selbst, sondern durch Länder und Kommunen vollzogen werde. Um einen einheitlichen Vollzug zu gewährleisten, neige der Bund zu einer möglichst engmaschigen Regulierung.
Ostermann verweist ergänzend auf die deutsche Mentalität, «alles ganz genau und sehr korrekt zu machen». Sie stellt zudem Risikoaversion und Misstrauen gegenüber Unternehmen fest. Auch der Wettbewerbsökonom Justus Haucap (Universität Düsseldorf) verweist auf eine verbreitete Risikoaversion und stellt dem das amerikanische Modell entgegen, das den Unternehmen zwar weniger Regeln setze, das aber mit strengen Haftungsregeln verbinde für den Fall, dass etwas schiefgehe.
Zudem habe man sich den Aufwuchs der Bürokratie in den Jahren wirtschaftlicher Prosperität zwischen der Finanzkrise und der Pandemie halt leisten können, sagt Haucap. Beigetragen habe auch das Wachstum der Beschäftigung im öffentlichen Dienst: «Je mehr Leute man hat, desto mehr entdecken diese Probleme, die es zu lösen gibt.»
Im Grundsatz sind sich alle einig. Auf die Frage nach den Plänen der konservativen Union im Falle eines Wahlsiegs hat der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann der «Frankfurter Allgemeinen» unter anderem geantwortet: «Beim Thema Entbürokratisierung richtig auf die Tube drücken.» Aber auch die Ampelregierung hat mit dem Bürokratieentlastungsgesetz einige Anläufe unternommen.
Warum der Abbau hapert
Dass die Bürokratie dennoch eher wächst als schrumpft, führt Haucap vor allem auf zwei Faktoren zurück. Den einen nennt er «Asymmetrie der Erkenntnis». Tauche ein neues Problem auf, erfolge rasch der Ruf nach neuen Regeln. Verschwinde ein Problem, falle das weniger auf, und die Regeln blieben.
2010 hat er in einem Buch 50 Behörden und staatliche Institutionen identifiziert, die man abschaffen oder deren Tätigkeit man privatisieren könnte. Eine einzige davon sei inzwischen abgeschafft worden, sagt er: die Bundesmonopolverwaltung für Branntwein. Nach dem Fall des Branntweinmonopols hatte sie zunächst noch viele Jahre überlebt.
Den zweiten Faktor sieht der Ökonom darin, dass mit Bürokratieabbau politisch wenig zu gewinnen sei. Die Abschaffung eines einzelnen Gesetzes oder Amts ist für den einzelnen Bürger kaum zu spüren, während sich direkt Betroffene umso vehementer wehren. Lieber brüsten sich Politiker deshalb damit, was sie geschaffen haben, denn mit dem, was sie abgeschafft haben.
Sechzig Vorschläge
An Vorschlägen zum Bürokratieabbau ist gleichwohl kein Mangel. Vom NKR gibt es eine Liste mit sechzig konkreten Beispielen. Sie reichen von der bundesweiten Harmonisierung der Bauordnungen (bis jetzt variiert die Mindesthöhe von Treppengeländern je nach Bundesland) bis zur Abschaffung der «Wohnungsgeberbescheinigung» (die Mieter zusätzlich zum Mietvertrag für das Einwohnermeldeamt benötigen).
Doch wie kommt man von diesem Klein-Klein zu einem radikaleren Vorgehen? Laut einer von der Bundesregierung schon 2015 eingeführten «One in, one out»-Regel muss jede neue Belastung durch entsprechende Entlastungsmassnahmen an anderer Stelle ausgeglichen werden. Allerdings gibt es Ausnahmen, darunter die Ausklammerung von EU-Recht. Diese müssten weg, und noch besser wäre «One in, two out», meint Ostermann.
Als interessanter Ansatz gelten die «Praxischecks», mit denen das Wirtschaftsministerium experimentiert hat. Dabei werden gemeinsam mit Experten aus Wirtschaft und Verwaltung Prozesse zum Beispiel für die Genehmigung von Windenergieanlagen simuliert, um bürokratische Hürden zu identifizieren.
Der Beitrag der EU
Angesichts der Papierlastigkeit der Verwaltung sehen Kuhlmann und Ostermann zudem viel Potenzial in der Digitalisierung. Haucap wiederum empfiehlt, durch eine Personalreduktion in deutschen Ministerien und der EU-Kommission eine Priorisierung ihrer Tätigkeiten zu erzwingen.
Der NKR plädiert dafür, Aufwände für EU-Richtlinien in die «One in, one out»-Bilanz einzubeziehen. Rund 60 Prozent der Belastungen in Deutschland gingen auf die Umsetzung von EU-Recht in nationales Recht zurück, schätzt er. Diesen Aufwand könnte Berlin reduzieren, würde es konsequent darauf verzichten, über die Brüsseler Vorgaben hinauszugehen (auch «gold plating», Vergolden, genannt). Weiter könnte Berlin sich auf EU-Ebene stärker für bürokratiearme Lösungen einsetzen.
Helfen würden schliesslich Pragmatismus, Eigenverantwortung und Risikofreude bei jedem Einzelnen: Bei Politikern, die mehr Vertrauen in Bürger und Unternehmen setzen und sich bei der Regulierung zurückhalten. Bei Beamten, die sich als Dienstleister statt als Obrigkeit verstehen und ihren Ermessensspielraum nutzen, statt sich stets dreifach abzusichern. Und nicht zuletzt bei Unternehmen und Bürgern: Wer bei jedem Problem gleich nach dem Staat ruft, darf sich nicht wundern, wenn dieser reguliert bis zum Übergriff.
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