Montag, Januar 27

Als Fraktionspräsidentin der Mitte agierte sie glücklos, als Pfister-Kritikerin forsch. Jetzt könnte Andrea Gmür Bundesrätin werden und alle übertrumpfen.

Seit ihrer Kindheit bewegt sich Andrea Gmür in einem Milieu selbst- und machtbewusster CVP-Männer. Jakob Schönenberger, ihr Vater, war Gross- und Ständerat für den Kanton St. Gallen. Ein konservatives Schwergewicht. Über ihren Mann, Philipp Gmür, den langjährigen CEO der Helvetia und heutigen Verwaltungsrat des Grand Casino Luzern, hiess es schon früh, dass er eines Tages ein einflussreicher CVP-Politiker werden würde. So, als gäbe es neben der calvinistischen auch eine katholische Prädestination. Nur, die politische Karriere machte Andrea, seine Frau.

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Ihre Karriere verlief steil und folgte dem Cursus Honorum der CVP. Acht Jahre Kantonsrat, vier im Nationalrat. 2019 schaffte sie die Wahl in den Ständerat und übernahm kurz darauf das Fraktionspräsidium der Mitte. Gmür war die erste Frau in diesem Amt.

Als Fraktionschefin wurde Gmür eine der potenziell mächtigsten Personen im Parlament. Doch sie scheiterte. Vor aller Augen musste sie das prestigeträchtige Amt schon nach einem Jahr niederlegen, was selten vorkommt. Gmür misslang es, in der Corona-Politik und bei der Ehe für alle eine einheitliche Linie herauszuarbeiten. Die parteiinterne Kritik an ihr war laut und wirkt bis heute nach.

Im Ständerat rollen ihre männlichen Parteikollegen manchmal mit den Augen, wenn Gmür spricht. In der Partei, die mit Promovierten und Juristen gespickt ist, sagen einige einflussreiche Köpfe sie spiele sich auf wie eine Lehrerin. Gmür ist ausgebildete Pädagogin.

Andrea Gmür und das Milieu der Mitte-Männer: Es ist eine ambivalente Geschichte. Diese Umgebung hat sie in ihrer Kindheit geprägt, seit fast zwanzig Jahren politisiert sie darin, und bisweilen ringt sie damit. Jetzt könnte sie ihre Freunde, aber auch ihre Kritiker übertrumpfen und Bundesrätin werden.

Gmür in der ersten Reihe

Seit Bundesrätin Amherd ihren Rücktritt angekündigt hat, haben die Favoriten reihenweise abgesagt. Andrea Gmür nicht. Ihr bot sich eine neue Chance.

Mit Velohelm und Notizblättern betritt Gmür an einem nasskalten Mittwoch ein Café beim Luzerner Bahnhof. Noch bevor sie sitzt, fragt ein Kellner, ob sie das Übliche bestelle. Dann serviert er der Sicherheitspolitikerin einen Ingwertee. Ingwer aktiviert die Abwehrkräfte.

Plötzlich ist Gmür, die eigentlich Gmür-Schönenberger heisst, wieder eine gefragte Politikerin. Am vergangenen Sonntag war sie in der bedeutenden Deutschschweizer Politsendung «Sonntalk» zu Gast. Dort referierte sie neben Thomas Matter (SVP) und Tamara Funiciello (SP) zur Lage der Nation. Sie sagte, die Schweiz brauche geregelte Beziehungen zu ihren Nachbarn. Dann wandte Gmür sich ihrem Spezialgebiet zu.

Seit Jahren ist Gmür Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission, gegenwärtig ist sie deren Präsidentin. Also erklärte sie im Fernsehen, das VBS von Viola Amherd sei das wichtigste Departement überhaupt, der Bundesrat verkenne die geopolitische Situation. Das müsse sich ändern. Diese Sendung war ihr Bewerbungsschreiben.

Einige Tage später sagte Gmür in Luzern: «Ich merke, dass ich inzwischen ernster genommen werde. Vor drei Jahren hätte mir niemand zugehört.»

In den Medien war bereits davon die Rede, dass der Mitte für das Bundesratsticket nur noch das B-Kader zur Verfügung stehe. Gmür sagt dazu: «Früher hätte es mich gekränkt, das zu hören, aber die Zeiten sind vorbei.» Auch aus der Partei heisst es, Gmür sei robuster geworden. Es scheint, als wappne sie sich für neue Aufgaben.

Andrea Gmür bestellt noch einen Ingwertee.

Gmür und das alte CVP-Milieu

Gemeinsam mit drei Geschwistern ist Andrea Gmür im toggenburgischen Kirchberg aufgewachsen. Ihre Eltern stammen aus kinderreichen Bauernfamilien. Durch Tüchtigkeit stiegen sie auf. Der sonntägliche Messbesuch lehrte Demut und soziale Verantwortung.

Dieses Milieu habe sie persönlich und politisch geprägt, sagt Gmür heute. Doch mehrfach hat sie sich an dieser Werteordnung gerieben. Als die CVP 1986 zwei Männer für die Bundesratswahl nominierte und die Luzerner Nationalrätin Judith Stamm dennoch an ihrer Kandidatur festhielt, sprach der Vater Schönenberger von «Anmassung». Seine Tochter war schockiert. Sie verstand nicht, weshalb eine promovierte Juristin und erfahrene Nationalrätin das Amt nicht ebenso gut machen sollte.

Das ist das Spannungsfeld, in dem sich Gmür bewegt: zwischen dem wirtschaftsfreundlichen, aber wertkonservativen Lager der Partei und dem sozialpolitischen Flügel, der sich für Frauen einsetzt.

Als Gmür 2015 in den Nationalrat gewählt wurde, lancierte sie etliche Vorstösse. Einige fanden damals, es seien zu viele, sie agiere unkoordiniert. Es sah aus, als suche Gmür ihren eigenen Kurs, so wie die Partei insgesamt.

2018 kam die Kritik dann auch aus den Medien. Damals forderte Gmür, dass die Resultate von Gentests für Versicherungen transparent gemacht werden. Gmür sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, sie politisiere im Interesse ihres Mannes und der Versicherungen. Damals wie heute wehrt sie sich gegen diese Kritik mit praktisch denselben Worten. «Mein Mann ist mein wichtigster Sparringpartner, aber wir können getrennt auf drei zählen und sind nicht immer gleicher Meinung.»

Ein Jahr später wurde Gmür in den Ständerat gewählt. Als zugezogene Toggenburgerin setzte sie sich in Luzern gegen alteingesessene Männer durch. Ihre Neider spielten diesen Sieg herunter und sagten später, sie habe die Wahl nur dank dem alten Luzerner Geschlecht ihres Mannes geschafft.

Seit der Polemik um die wilde Kandidatur von Judith Stamm sind fast vierzig Jahre vergangen. Gefühlt sind es weniger.

Neue Kräfte in der Mitte

Anfang der Woche kommunizierte die Mitte den Fahrplan für die Bundesratswahl. Sie lässt vieles offen, auch die Geschlechterfrage. Gerhard Pfister betonte jedoch, seit zwei Jahrzehnten habe die Partei stets mindestens eine Kandidatin portiert, und die letzten beiden Male habe sie zwei Bundesrätinnen gestellt.

Pfisters Aussage war einerseits ein Selbstlob in Gleichstellungsfragen. Andererseits aber auch ein Signal an die Männerbünde in der Fraktion. Die wünschen sich nach Doris Leuthard und Viola Amherd wieder einen der ihren in der Regierung.

Ein möglicher Kandidat wäre der St. Galler Nationalrat und Bauernpräsident Markus Ritter. Neben dem studierten Agronomen Rösti, dem Winzer Parmelin und der nebenberuflichen Schafzüchterin Baume-Schneider wäre der bürgerliche Ritter ein weiterer Bundesrat bäuerlicher Prägung. Je wahrscheinlicher seine Kandidatur wird, desto interessanter wird Gmür als Alternative.

In den vergangenen Jahren hat sich Gmür für die externe Kinderbetreuung starkgemacht. Ihre Äusserungen zur Europa- und zur Sicherheitspolitik zeigen weiter, dass sie die Politik von Bundesrätin Amherd weiterführen würde. Damit dürfte sie im linken Lager punkten.

Parteiintern preschen erste Unterstützerinnen bereits vor. Christina Bachmann-Roth, die Präsidentin der Mitte-Frauen, sagt: «Wenn Andrea Gmür sich für eine Kandidatur entscheidet, dann stellen wir uns hinter sie und machen voll Kampagne.»

Kampagnen haben die Mitte-Frauen in diesem Jahr bereits mehrfach gemacht. Einige, wie die für eine Bundesratskandidatur von Isabelle Chassot, wirkten chaotisch. Andere entfalteten Wirkung.

Als vor zwei Wochen alte Vorwürfe über das Arbeitsklima auf dem Generalsekretariat der Mitte aufkamen, forderte Christina Bachmann-Roth eine neuerliche, externe Untersuchung. Andrea Gmür sagte auf Anfrage eines Journalisten, dass Pfister ein guter Parteipräsident sei, aber auch, dass sie die Einschätzung von Bachmann-Roth teile. Dann machte sie die Untersuchung zur Bedingung für eine Kandidatur Pfisters. Heute sagt Gmür, sie sei von der Anfrage überrumpelt worden.

Einen Tag nach den Äusserungen von Bachmann-Roth und Gmür gab Pfister bekannt, dass er nicht für den Bundesrat kandidiert.

Wer es an seiner Stelle tut, entscheidet sich bis am 2. Februar. Die Ausmarchung um die Plätze auf dem Ticket könnte zum Prolog für neue Richtungskämpfe werden. Es geht um die Frage, wie sehr die Partei die alte CVP bleiben will und wie viel neue Mitte sie zulassen kann.

Die Frauen der Partei werden alles unternehmen, damit die Männer diese Frage nicht unter sich ausmachen. So, wie es in der alten CVP üblich war.

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