Mittwoch, Februar 5

Der Zürcher Nationalrat gilt als Vater der Rentenalterinitiative. Er will bis 70 arbeiten und sagt: «Die Idee, dass wir alle ein bisschen länger arbeiten, ist heilbringend.»

Herr Silberschmidt, Sie gelten als Vater der Renteninitiative. Wie viele empörte Reaktionen von Rentnern und bald Pensionierten erhalten Sie?

Wenn man die Debatten in den sozialen Netzwerken verfolgt, könnte man meinen, ältere Menschen würden die Idee einer Rentenaltererhöhung durchs Band ablehnen. Dabei konnten wir beim Unterschriftensammeln mehr Ältere als Jüngere von unseren Argumenten überzeugen. Auch jetzt im Abstimmungskampf erreichen mich viele Reaktionen älterer Menschen. Viele sind gegen die 13. AHV und für die Renteninitiative.

Laut der ersten SRG-Umfrage ist eine Mehrheit der über 65-Jährigen für eine 13. AHV. Wie erklären Sie sich das?

Die SP setzt im Abstimmungskampf nicht umsonst auf das Schlagwort «Kaufkraft». Die Inflation hat bei vielen Menschen zu einem reellen, manchmal auch nur gefühlten Kaufkraftverlust geführt. Was gerne ausgeblendet wird: Eine 13. AHV würde der Kaufkraft nicht nur gefühlt zusetzen, sondern reell.

Inwiefern?

Das Geld für die 13. AHV wächst ja nicht auf den Bäumen, sondern muss erwirtschaftet werden, in erster Linie via Lohnprozente der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. In der öffentlichen Debatte redet man praktisch nur von Pensionierten, denen das Geld nicht zum Leben reicht. Niemand redet von den Büezern, die am Ende des Monats weniger Geld erhalten werden und für den Znüni erst noch mehr bezahlen müssen. Ich sehe es in unserem Betrieb . . .

Sie haben ein Gastro-Unternehmen . . .

. . . genau, da ist man froh, wenn man 3 bis 4 Prozent Ebit erreicht. Wenn ein Drittel der Kosten auf das Personal entfällt und der einzelne Mitarbeiter 2 Prozent mehr kostet, frisst das der Gesellschaft unter dem Strich einen Fünftel vom Ebit weg. Das führt automatisch zu tieferen Investitionen, was auch die Arbeitnehmer zu spüren bekommen. Schweizer Löhne sind im internationalen Vergleich heute schon sehr hoch. Steigen sie noch mehr, erhöht sich auch der Spar- und Restrukturierungsdruck der Unternehmen.

2023 lag die Kaufkraft der AHV-Renten rund 1,4 Prozent unter dem Niveau von 2019.

Das ist korrekt. Dafür war die Kaufkraft der Jahresrenten 2023 mehr als viermal so hoch wie 1948. In den vergangenen 40 Jahren betrug die Kaufkraftsteigerung 19 Prozent. Die letzten vier Jahre waren stark durch die Pandemie, den Ukraine-Krieg und die Energiekrise geprägt. Zudem wird bei Betrachtungen über die Durchschnittsrente gerne ausgeblendet, dass die meisten Pensionierten heute nicht nur eine AHV haben, sondern auch eine Pensionskasse und allenfalls eine dritte Säule. Der Kaufkraftverlust trifft Jüngere viel stärker als Ältere.

Heute bekommen neun von zehn Rentenbezügern mehr Geld aus der AHV, als sie eingezahlt haben. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass die AHV primär von den sehr Wohlhabenden bezahlt wird. Ist es wirklich ein Problem, wenn Sergio Ermotti oder Christoph Blocher ebenfalls eine 13. AHV-Rente bekommen? Sie haben ja schliesslich dafür bezahlt.

Dieses Argument höre ich oft. Interessant ist aber vor allem die Frage, weshalb heute neun von zehn Personen mehr AHV erhalten, als sie an Beträgen eingezahlt haben.

Dann stelle ich die Frage. Weshalb?

Weil ignoriert wird, dass wir heute ein Rentenversprechen zulasten der Enkel haben, das nicht finanziert ist. Die umlagefinanzierte AHV hängt stärker als alle anderen Sozialsysteme von der Demografie der Schweiz ab. Bei der Einführung der AHV im Jahr 1948 finanzierten 6,5 Arbeitnehmer eine Rente, 2035 werden es noch 2,3 sein. Wenn wir nichts unternehmen, wird sich in den nächsten 25 Jahren ein Defizit von 100 Milliarden Franken anhäufen.

Ihre politische Gegenspielerin, die Zürcher SP-Nationalrätin Jacqueline Badran, sagt, es komme überhaupt nicht darauf an, wie viele Erwerbstätige für eine Rente aufkommen müssten. Relevant sei die einbezahlte Lohnsumme – und die wiederum resultiere in positiven Umlageergebnissen in Milliardenhöhe.

Ich werde ja selten hässig, aber solche Milchbüechlirechnungen ärgern mich. Das ist doch ökonomisch völlig unhaltbar. Tatsache ist, dass man die Rechnung einfach an die nächste Generation weiterreicht und so tut, als wäre das ein effizientes System. Ausgerechnet die Kreise, die in der Energie- und Klimapolitik am vehementesten auf Nachhaltigkeit pochen und daran erinnern, dass wir ab 2050 als Gesellschaft und Wirtschaft CO2-neutral sein sollen, blenden das Argument der Nachhaltigkeit im Bereich der Altersvorsorge komplett aus. Motto: Für die nächsten paar Jahre reicht es ja noch.

Was halten Sie von Jacqueline Badrans Idee, ein Prozent der fast doppelt so hohen Lohnbeiträge in der Pensionskasse in die AHV zu verschieben?

Nichts. Wenn wir anfangen, die drei Säulen gegeneinander auszuspielen, dann ist das der Anfang vom Ende des Dreisäulenprinzips, das vorsieht, dass jede Säule selbsttragend ist. Die Pensionskassengelder sind für die meisten Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, der relevanteste Rentenbeitrag. Wer eine BVG-Rente hat, ist sehr selten von Altersarmut betroffen. Wenn wir also anfangen, die berufliche Vorsorge zu schwächen, riskieren wir auch, dass wir mehr Altersarmut haben werden.

Wer mit der AHV nicht durchkommt, hat Anrecht auf Ergänzungsleistungen. Aber ausgerechnet hier haben die bürgerlichen Parteien den Rotstift angesetzt.

Der Beschluss für die Ergänzungsleistungen wurde 2019 gefasst und ist nun in Kraft getreten. Aus abstimmungstaktischer Sicht ist das sehr ungünstig, aber inhaltlich halte ich die Reform im Grossen und Ganzen für richtig. In der Statistik galten bisher einige als arm, die es de facto nicht sind. Wer Vermögen oder einen reichen Ehegatten hat, ist nicht auf Ergänzungsleistungen angewiesen. Zudem wurden in verschiedenen Bereichen auch Verbesserungen für die Bezügerinnen und Bezüger erzielt. Etwa bei der Anrechnung der Mietkosten an die EL. Deshalb lehnte auch die SP die Reform im Nationalrat nicht ab.

Laut der jüngsten SRG-Umfrage stehen nur 41 Prozent der Stimmberechtigten hinter der Renteninitiative. Deshalb setzen die Jungfreisinnigen nun auf das Thema Zuwanderung. Matthias Müller, Ihr Nachfolger an der Spitze der Jungpartei, sagt: «Wir retten die AHV und bremsen die Zuwanderung.» Das tönt, mit Verlaub, nach eierlegender Wollmilchsau.

Die Grundlage für diese Aussage liefert eine Studie des Büros Ecoplan, die im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen erstellt wurde. Gemäss dieser kann eine Erhöhung des Rentenalters die Zuwanderung zwischen 2023 und 2050 um 23 Prozent reduzieren. Die Idee, dass wir alle ein bisschen länger arbeiten, ist tatsächlich heilbringend.

Das müssen Sie bitte etwas konkretisieren.

Jedes Jahr verlassen mehr Menschen den Arbeitsmarkt, als neue dazukommen. Das Delta beträgt etwa 20 000 Personen pro Jahr. Das heisst, der Fachkräftemangel wird sich in den nächsten Jahren noch viel ausgeprägter bemerkbar machen. Mit anderen Worten: Finden die Unternehmen nicht genug Einheimische für ihre Jobs, rekrutieren sie im Ausland. Würde das Rentenalter erhöht, könnten die Firmen vermehrt auf hier ansässige Personen zurückgreifen, was die Zuwanderung bremsen würde. Gleichzeitig würde nicht nur die AHV, sondern auch die Bundesfinanzen entlastet. Bleibt das Rentenalter bei 65 Jahren, steigen die Ausgaben für den Bund zur Finanzierung der AHV um mehrere hundert Millionen pro Jahr an. Das wird den Druck auf Ausgaben wie jene für die ETH weiter erhöhen. Die Jungen werden doppelt bestraft.

Ältere Arbeitnehmer tun sich heute trotz Fachkräftemangel sehr schwer, eine neue Stelle zu finden. Wieso sollen sie plötzlich begehrt sein?

Dass Arbeitnehmer über 55 schwerer eine neue Stelle finden als jüngere, ist leider eine Realität. Das Hauptproblem ist, dass bei älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die BVG-Abzüge höher sind. Allerdings soll diese Schwelle bei der Pensionskassenreform, die im Herbst zur Abstimmung kommt, gesenkt werden. Ich bin zudem fest davon überzeugt, dass der Wind bald drehen wird. In Zukunft werden die Firmen händeringend nach älteren, erfahrenen Mitarbeitern suchen. Die Zürcher Verkehrsbetriebe suchen bereits heute explizit nach älteren Trampiloten.

Dagegen spricht, dass die Zahl der Frühpensionierungen in den vergangenen Jahren zugenommen hat. In der Schweiz arbeitet man offensichtlich nicht mehr so gerne wie früher.

Auf der anderen Seite arbeiten heute schon 20 Prozent der Bevölkerung über ihren 65. Geburtstag hinaus. Der Schlüssel zur Lösung des Problems liegt in der Flexibilisierung und der Individualisierung. Für mich ist klar, dass nicht alle Menschen bis 65 oder länger durchkrüppeln können.

Der «Blick» titelte kürzlich: «Wegen jungfreisinniger VolksinitiativeBauarbeiter-Rente mit 60 in Gefahr.»

Wer gewisse Medien liest, könnte meinen, die ganze Schweiz bestünde aus Bauarbeitern. Für mich ist unbestritten, dass nicht alle Menschen aus allen Berufen bis 65 arbeiten können. Ich plädiere deshalb für ein Lebensarbeitszeitsmodell. Massgebend für die Pensionierung wäre neu die Zahl der geleisteten Arbeitsjahre – und nicht mehr das Referenzalter von 65 Jahren. Wer also früh zu arbeiten beginnt, erhält früher die volle Rente, auch Bauarbeiter, die mit 15 eine Lehre begonnen haben. Wer in einem anstrengenden Beruf arbeitet, könnte also schon vor seinem 65. Altersjahr in Rente gehen. All jene, die später ins Berufsleben einsteigen, müssen dagegen länger arbeiten. Dieses Modell könnte in der Umsetzung der Renteninitiative berücksichtigt werden.

Sie feiern in wenigen Tagen Ihren 30. Geburtstag. Wie lange wollen Sie arbeiten?

Ich hoffe, dass ich mindestens bis 70 arbeiten kann. Aber entscheidend ist natürlich die Gesundheit, die psychische wie die physische. Die Renteninitiative würde mir die Planung erleichtern.

Inwiefern?

Sie hat den Vorteil der Verlässlichkeit. Wird das Rentenalter wie vorgeschlagen an die Lebenserwartung gekoppelt, bedeutet das für mich, dass ich in etwa 35 Monate länger arbeiten muss. Darauf kann ich mich die kommenden 35 Jahre lang einstellen. Das ist mir viel lieber als die Unberechenbarkeit der Politik.

Vater der Renteninitiative

Andri Silberschmidt, Nationalrat und Gastrounternehmer

Von März 2016 bis November 2019 präsidierte der Zürcher FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt die Jungfreisinnigen Schweiz, mit denen er die sogenannte «Renteninitiative» lancierte. Er ist im Präsidium des Parteivorstands der FDP Schweiz.

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