Montag, Oktober 28

Starb die erste Nutzerin der Suizidkapsel gar nicht durch Erstickung? Diesen ungeheuren Verdacht hegt offenbar die Schaffhauser Staatsanwaltschaft. Mit schweren Konsequenzen für die Betroffenen.

Am 23. September, kurz vor 17 Uhr, setzte sich eine 64-jährige Amerikanerin in einem Waldstück im Kanton Schaffhausen in die Suizidkapsel Sarco. Der Deckel wurde geschlossen, sie drückte einen Knopf, die Kapsel füllte sich mit Stickstoff, die Frau starb. So beschreibt die Organisation The Last Resort, die den Sarco zur Verfügung stellt, den Vorgang, der europaweit Aufsehen erregte.

Doch die Schaffhauser Staatsanwaltschaft verfolgt offenbar noch eine andere Piste: Die Amerikanerin könnte getötet worden sein.

Das würde erklären, warum Florian Willet auch fünf Wochen nach der Sarco-Premiere weiterhin in U-Haft sitzt. Der Präsident von The Last Resort war die einzige Person, die im Schaffhauser Waldstück präsent war, als die Frau starb. Die Polizei verhaftete Willet dort später, zusammen mit zwei Anwälten und einer niederländischen Fotografin, die erst nach dem Zeitpunkt des Todes zum Ort des Suizids gekommen waren. Die anderen drei kamen nach 48 Stunden wieder frei, Willet nicht.

Wohl keine «selbstsüchtigen» Motive

Laut Schweizer Rechtsexperten wäre eine U-Haft von fünf Wochen wohl unverhältnismässig, ginge es ausschliesslich um einen Verstoss gegen Artikel 115 des Strafgesetzbuchs. Dort steht, dass eine Person, die aus «selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmorde verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet», mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft werden kann. Weil die Sarco-Leute für die Benutzung der Kapsel keine Gebühr verlangen, ist es fraglich, ob man sie wegen «selbstsüchtiger» Motive belangen kann.

Bereits im September hatte Peter Sticher, Erster Staatsanwalt in Schaffhausen, erklärt, dass «wegen verschiedener Delikte» ermittelt werde. Doch erst ein Artikel in der niederländischen Zeitung «de Volkskrant» macht nun publik, dass es sich bei einem dieser mutmasslichen Delikte um vorsätzliche Tötung handeln soll.

Die Reporter der Zeitung haben den Sarco-Erfinder Philip Nitschke eng begleitet und waren offenbar als einzige Journalisten genaustens über den Zeitpunkt der Premiere informiert. Zudem durfte auch eine «Volkskrant»-Fotografin das Geschehen in Schaffhausen dokumentieren.

Schwere Verletzungen am Nacken

Für die Hypothese einer vorsätzlichen Tötung soll es Indizien geben. Wenige Stunden nach dem Tod der Amerikanerin sagte ein Forensiker den Ermittlern am Telefon, dass die Frau schwere Verletzungen am Nacken erlitten habe. Sie könnte also erwürgt worden sein. Dieser gravierende Verdacht, der in mehreren gerichtlichen Dokumenten auftauche, sei immer noch von Unklarheiten und Geheimnissen umgeben, schreibt die niederländische Zeitung.

So hätten die Anwälte der verdächtigen Personen den ominösen Autopsiebericht bis jetzt nicht einsehen dürfen. Und fragwürdig sei auch, dass der Staatsanwalt den Vorwurf der vorsätzlichen Tötung bisher nicht öffentlich gemacht, diesen Verdacht aber sehr wohl vorgebracht habe, um beim Richter eine längere U-Haft für Florian Willet zu erwirken.

Soll Willet, dieser 47-jährige deutsche Ökonom und Jurist, der eher wie ein Schöngeist wirkt und Mitglied bei der Hochbegabtenvereinigung Mensa ist, die sterbewillige Amerikanerin eigenhändig umgebracht haben – etwa, weil der Sarco doch nicht wie gewünscht funktioniert hat? Das ist schwer vorstellbar.

Erklärung für die verdächtigen Male

Doch was ist mit den vermeintlichen Würgespuren? Eine Person aus dem Umfeld von The Last Resort erklärt gegenüber der NZZ, dass die Verstorbene an einer Osteomyelitis an der Schädelbasis gelitten habe, also an einer Infektion des Knochenmarks. Dies habe die verdächtigen Male verursacht.

Zudem verweist «de Volkskrant» auf zwei Videoaufnahmen, die die Journalisten ausgewertet haben. Eine Kamera filmte den Kontrollknopf im Inneren des Sarco, eine zweite war an einem Baum aufgehängt und filmte die Suizidkapsel von aussen. Die Kameras reagierten auf Bewegung, deshalb haben die Aufnahmen Lücken. Dass die Bilder jedoch manipuliert sein könnten, schliesst die Zeitung praktisch aus.

Und Willet habe nie den Deckel des Sarco geöffnet oder sich sonst verdächtig verhalten. Das einzig Auffällige ist eine Bewegung innerhalb der Kapsel rund zwei Minuten nachdem die Amerikanerin den Knopf gedrückt hatte. Offenbar verkrampfte sich der Körper der Frau, die zu diesem Zeitpunkt bereits bewusstlos war – eine Reaktion, die bei Suizid mittels Stickstoff häufig beobachtet wird.

Ob die Ermittler ebenfalls Zugang zu den – offenbar entlastenden – Videoaufnahmen haben, ist unklar. Die «Volkskrant»-Journalisten stellen die These in den Raum, dass die Schaffhauser Staatsanwaltschaft den Verdacht der vorsätzlichen Tötung braucht, um schärfere Ermittlungsmethoden anwenden zu dürfen.

So soll sie die Herausgabe der Kamera und des Handys der Fotografin verlangen, die immer noch als Verdächtige gilt. Dies zum Unmut des Schweizer Anwalts der Fotografin, Andrea Taormina. «Es ist inakzeptabel, dass eine Journalistin verhaftet wird, nur weil sie ihren Job macht. Das ist eine klare Verletzung der Pressefreiheit.» Zumal seine Klientin nicht einmal anwesend gewesen sei beim Suizid, sagt Taormina.

Staatsanwaltschaft schweigt

Möglicherweise erhöht der Verdacht der vorsätzlichen Tötung auch die Chancen auf ein allfälliges Auslieferungsgesuch der Schweiz für Philip Nitschke und seine Ehefrau Fiona Stewart, die zusammen mit Willet The Last Resort präsidiert. Nitschke und Stewart hatten sich vor der Sarco-Premiere rechtzeitig ins nahe Deutschland abgesetzt.

Mittlerweile sind die beiden Australier zurück in den Niederlanden, wo sie seit einigen Jahren leben. Kurz nach dem Einsatz der Suizidkapsel durchsuchte die niederländische Polizei auf Ersuchen der Schweizer Kollegen hin Nitschkes Büro in Haarlem.

Staatsanwalt Sticher will auf Anfrage der NZZ nicht sagen, ob es ein Auslieferungsgesuch für Nitschke und Stewart gibt. Und auch sonst nimmt er, mit Verweis auf das Amts- und Untersuchungsgeheimnis, keine Stellung. So bleibt die Frage offen, warum Florian Willet schon so lange in U-Haft sitzt. Und wie ernst es die Ermittler mit der vorsätzlichen Tötung wirklich meinen.

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