Montag, Oktober 7

Die Trauerfeiern in den Kibbuzim und auf dem Gelände des Nova-Festivals bringen den wenigsten Trost. Ein Augenschein am Jahrestag des israelischen Traumas.

Noch bevor die Sonne aufgegangen ist, hämmert Artillerie- und Maschinengewehrfeuer aus dem nahen Gazastreifen. Am Himmel schwirren Apache-Kampfhelikopter. Dann dröhnt aus den Lautsprechern auf der Bühne jenes Lied, das genau vor einem Jahr an diesem Ort in der Negevwüste gespielt wurde, bevor die Terroristen der Hamas um 6 Uhr 29 ihren Angriff starteten und beim Nova-Festival über 360 junge Menschen abschlachteten.

Auf die Minute genau ein Jahr später haben sich die Angehörigen der Ermordeten und eine Schar Journalisten im Morgengrauen in Reim versammelt, wo die Party stattfand. Es ist eine von Dutzenden Gedenkveranstaltungen, die an diesem Tag in ganz Israel stattfinden.

Nachdem der laute Techno verklungen ist, folgt eine Schweigeminute – so der Plan. Eine Frau mit kurzen, dunklen Haaren und einem schwarzen T-Shirt stösst nach wenigen Sekunden einen gellenden Schrei aus, ihre zitternden Hände vor dem Gesicht: Die Mutter eines Opfers kann ihren Schmerz nicht mehr zurückhalten. Nur drei Minuten danach ertönt das warnende Piepsen der israelischen Alarm-App – auch ein Jahr nach ihrem Massaker feuert die Hamas wieder Raketen auf Israels Süden.

Die israelische Armee teilt mit, sie habe einen Grossangriff mit Hamas-Raketen vereitelt, der um 6 Uhr 30 hätte beginnen sollen. Später am Vormittag feuern die palästinensischen Islamisten fünf Raketen in Richtung Tel Aviv. Zudem befahl Israel am Montag einem Grossteil der verbliebenen Bewohner im nördlichen Gazastreifen, das Gebiet zu verlassen. Es ist die umfangreichste Evakuierungsanordnung seit dem Beginn der israelischen Bodenoffensive Ende Oktober 2023.

Angehörige können nicht abschliessen

Obwohl von Gaza nur noch Ruinen stehen, gibt sich die Hamas unbeugsam. Israels Staatspräsident Yitzhak Herzog geht durch die Menge – doch mehr als die Angehörigen umarmen und seine Stirn in Falten legen kann er nicht tun, um ihr Leid zu lindern. Ein Jahr nach der Katastrophe ist kein Ende in Sicht.

Ifat Genut hat trotzdem das Gefühl, dass sie heute ein wenig abschliessen kann. «Soweit man als Familie eben abschliessen kann, wenn die eigene Tochter tot ist», sagt die 43-Jährige mit den langen, braunen Haaren, die aus ihrem Kopftuch fallen. Ihre 22-jährige Tochter Aviya wurde auf dem Festival ermordet. «Sie kam gerade zurück aus Südamerika und wohnte seit zwei Monaten wieder zu Hause», erzählt sie.

Am Nachmittag des 7. Oktobers 2023 war Genut mit ihrem Mann zum Gelände des Festivals gefahren, um nach ihrer Tochter zu suchen. Erst vor Ort wurde ihr klar, welches Ausmass der Angriff hatte. «Wir haben viele tote Terroristen am Strassenrand gesehen – und dann gemerkt, dass die Armee immer noch gegen sie kämpft.» Genut erfuhr erst nach einer langen Woche der Ungewissheit von der Armee, dass Aviya von der Hamas ermordet worden war. Heute liegen auf dem Gelände keine Leichen mehr, sondern Hunderte kleine Gedenkstätten mit Fotos der Opfer.

«Sie haben meinen kleinen Bruder getötet»

Auch Bar Arbib erfuhr erst nach fünf Tagen, dass die Terroristen ihren kleinen Bruder Offek getötet hatten. Er wurde nur 21 Jahre alt. Die 25-Jährige sitzt auf dem Festivalgelände neben einer grossen Flagge, die das Bild ihres Bruders in Uniform zeigt. «Für uns ist immer noch der 7. Oktober», sagt sie. Ihr älterer Bruder sitzt neben ihr, schluchzt hinter seiner Sonnenbrille und zieht immer wieder an seiner E-Zigarette.

Die Detonationen aus dem nahen Gazastreifen stören sie nicht. «Es ist gut, dass wir die Explosionen hören», sagt sie. «Das ist, was Offek gehört hat. So fühle ich mich ihm näher.»

Arbib denkt nicht darüber nach, was das seit einem Jahr andauernde Bombardement des Gazastreifens mit den Menschen auf der anderen Seite der Mauer macht, nur fünf Kilometer entfernt. Israel hat in seinem Krieg gegen die Hamas Tausende zivile Opfer in Kauf genommen.

«In diesem Moment sind mir meine Feinde absolut egal», sagt sie über die Menschen in Gaza. «Es waren diese Menschen, die meinen kleinen Bruder getötet haben.» Einen Unterschied zwischen der Hamas und der Zivilbevölkerung in Gaza macht Arbib offenbar nicht.

Der 7. Oktober bleibt eine offene Wunde

Etwa zehn Kilometer vom Gelände des Nova-Festivals entfernt liegt Nir Oz. Es ist einer der Kibbuzim, die am 7. Oktober am härtesten getroffen wurden. Allein hier wurden 46 Menschen ermordet, die Hamas nahm 71 Geiseln.

Hinter dem Eingang zum Kibbuz steht ein zerstörtes Haus, das immer noch verkohlt ist. Auf dem Friedhof sind über einhundert Plastikstühle vor einer grossen israelischen Flagge aufgestellt. Auf einer Bühne verlesen zwei Bewohner die Namen der Getöteten und Verschleppten mit zitternder Stimme, es werden Reden gehalten und Lieder gesungen.

Auch Rotem Cooper glaubt nicht mehr an eine klare Unterscheidung zwischen Zivilisten in Gaza und der Hamas. «Wir haben lange daran festgehalten», sagt Cooper im Schatten eines grossen Baumes. «Heute ist aber klar, dass die Taten der Hamas von der Bevölkerung in Gaza stark unterstützt wurden.»

Coopers Eltern wurden am 7. Oktober von der Hamas entführt. Er selbst ist in Nir Oz aufgewachsen und lebte im Kibbuz, bis er 24 Jahre alt war. Von der Entführung seiner Eltern erfuhr er in seiner neuen Heimat in Kalifornien. Seine Mutter Nurit wurde schon im Oktober von der Hamas freigelassen, doch sein Vater Amiram wurde in Gaza ermordet – seine Leiche ist immer noch dort.

So wie viele Bewohner der Kibbuzim in der Nähe des Gazastreifens glaubten auch die Menschen in Nir Oz an Frieden mit den Palästinensern, setzten sich für Verständigung statt Gewalt ein. Dieser Idealismus ist nun erschüttert.

Von der rechts-religiösen israelischen Regierung ist Cooper dennoch enttäuscht. Nicht nur habe die Regierung das Massaker überhaupt erst zugelassen und viele Gelegenheiten für ein Geiselabkommen verstreichen lassen. Auch halte sie das notwendige Geld für den Wiederaufbau des Kibbuz zurück. «Hier hat die Regierung wenig Unterstützer – eine andere Erklärung gibt es für das Verhalten nicht.»

Israel könne nicht heilen, solange die Geiseln und die sterblichen Überreste der Verschleppten noch im Gazastreifen seien, fügt Cooper hinzu. «Höchstwahrscheinlich werden wir nie alle Geiseln zurückbekommen», sagt der 58-Jährige mit traurigen Augen. Im Moment verhandeln Israel und die Hamas noch nicht einmal über ein Abkommen. «Deswegen wird der 7. Oktober eine offene Wunde für Israel bleiben – für mindestens zwei Generationen.»

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