Mittwoch, November 12

Für viele ist er das kleinere Übel. Doch wenn Biden Präsident wird, könnte er Amerika vollends entzweien. Nicht nur wegen seines Alters.

Nach Bidens verunglücktem Auftritt bei der TV-Debatte vom 27. Juni ist es gegenwärtig unklar, ob er überhaupt Kandidat der Demokraten bleiben wird. Bei Umfragen liegt Trump klar vorne. Falls Biden aber im Rennen bleibt und die Wahl gewinnt – was nicht gänzlich ausgeschlossen ist –, wird ihn die Frage nach seiner geistigen Fitness noch viel mehr als in der ersten Amtszeit verfolgen. Er ist jetzt 81, am Ende seiner zweiten Amtszeit wäre er 86, ein einsamer Rekord.

Jede Rede wäre eine Zitterpartie

Man kann davon ausgehen, dass er noch weniger Reden halten und noch weniger Pressekonferenzen und Interviews geben würde als bisher. Jede Situation, bei der er ohne Teleprompter reden müsste, würde er vermeiden. Aber selbst vorbereitete Ansprachen wären eine Zitterpartie. Bei jedem weiteren Patzer oder Aussetzer würden die Gegner seine definitive Senilität ausrufen. Ein Greis ist nicht geeignet, den USA auf der internationalen Bühne Respekt zu verschaffen oder diktatorische Feinde einzuschüchtern, gerade in der angespannten geopolitischen Situation.

In der amerikanischen Politik sind Showeffekte, Rhetorik, Charisma und ein publikumswirksames, zupackendes Auftreten wichtig, viel wichtiger als in der Schweiz, wo solche Eigenschaften eher nachteilig sind. Der «stille, fleissige Schaffer» hat in Washington nichts verloren; Bescheidenheit ist keine Tugend.

Serie «Falls Donald Trump gewinnt»

Die Serie diskutiert, inwiefern eine zweite Amtszeit von Donald Trump zu geopolitischen und weltwirtschaftlichen Veränderungen führen könnte – oder eben nicht.

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Aber, so könnte man einwenden, da es sowieso Bidens letzte Amtszeit wäre, müsste er weniger auf seine öffentliche Wirkung achten und könnte sich ganz auf seine Sachthemen konzentrieren. Das kann auch ein Vorteil sein. Schliesslich war er nie ein charismatischer Redner wie Barack Obama. Gerade im Vergleich zu Donald Trump mit seiner lauten und oft lügenhaften Rhetorik könnte Bidens Zurückhaltung sogar positiv wirken. Schliesslich gab und gibt es auch andere Staatschefs, die sich wenig in der Öffentlichkeit zeigen und trotzdem gute Arbeit leisten.

Umso wichtiger wäre es, dass Biden von guten Mitarbeitern und Beratern umgeben ist. Selbst wenn das der Fall ist, bleibt allerdings ein Problem: seine Stellvertreterin. Kamala Harris ist noch unbeliebter als er. Sie ist bis jetzt seltsam farblos geblieben. Es ist nicht so, dass sie viele Fehler macht; eher herrscht der Eindruck, sie mache überhaupt nichts. Die Vorstellung, dass sie ihn früher oder später ersetzt, macht die Wähler noch skeptischer.

Plötzlich ist Biden unberechenbarer als Trump

Malt man sich aus, wie die nächsten Jahre in den USA aussehen könnten, wird es ironisch. Während momentan alle Augen kritisch auf Biden gerichtet sind und Trumps Schwächen in den Hintergrund rücken, sah es bis vor der TV-Debatte umgekehrt aus. Es wurde mehr darüber spekuliert, was passieren könnte, wenn Trump gewählt würde, als darüber, wie es im Falle einer Wiederwahl von Biden aussähe.

Bei Trump konnte man sich die wildesten Szenarien ausmalen; bei Biden schien die Zukunft vorhersehbar. Der Grund dafür ist einfach: Biden versteht sich als Mann der Kontinuität, der Berechenbarkeit und der Vernunft, während Trump auf Disruption setzt, also auf Diskontinuität, Unberechenbarkeit und Provokation.

Biden ist seinen Wählern bis jetzt ein konkretes Programm für den Fall seiner Wiederwahl schuldig geblieben. Aber einen Satz wiederholte er in den letzten Monaten: «Let’s finish the job» – «Lasst mich die Aufgabe zu Ende führen». Man kann also, um Bidens Politik für eine zweite Amtszeit zu prognostizieren, seinen Kurs der letzten Jahre extrapolieren.

Das Problem bei dieser Betrachtungsweise ist allerdings, dass auch bei Biden eine Disruption plötzlich Thema geworden ist, wenn auch in anderer Weise als bei Trump. Disruption gilt bei Biden im Sinne von unfreiwilligen Unterbrechungen, von Absenzen, Blackouts, leeren Blicken und Verlorenheit.

Aber wenn man diesen geriatrischen Aspekt beiseitelässt und voraussetzt, dass Biden einigermassen funktioniert und die schlechten Tage von seinem Stab abgefedert werden, kann man mit einer gewissen Kontinuität rechnen.

Das heisst, die Schwerpunkte seiner Politik dürften weiterhin in den folgenden Bereichen liegen: Klimapolitik, günstigere medizinische Versorgung, soziale Sicherheit, Schuldenerlass für Studiendarlehen, Polizeireform, strengere Waffengesetze, Bürger- und Wahlrechte, Recht auf Abtreibung und generell in der Verteidigung der Demokratie und ihrer Institutionen. In der Aussenpolitik kann man davon ausgehen, dass er der Ukraine im Kampf gegen Russland weiter beistünde und die Unterstützung Israels aufrechterhielte, allerdings im Gegenzug Verhandlungsbereitschaft gegenüber den Palästinensern einfordern würde.

Jenseits der scharfen Rhetorik gibt es durchaus Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Präsidentschaftskandidaten. Sowohl Trump als auch Biden sind in der Innenpolitik ausgabenfreudig, wobei Biden die massive Staatsverschuldung durch höhere Steuern für Reiche und Firmen vermindern will, im Gegensatz zu Trump. In der Aussenpolitik fährt Biden, ebenso wie Trump, einen eher protektionistischen Kurs, insbesondere gegenüber China. Er ist Trump damit näher, als er zugibt.

Auch bei einem Sieg Bidens wird keine Ruhe einkehren

Egal, ob Trump oder Biden die Wahl gewinnen wird, das Resultat könnte knapp ausfallen. Gerade deshalb ist es im Falle eines Biden-Sieges gut möglich, dass Trump das Ergebnis erneut, wie schon 2020, in Zweifel ziehen wird. Das hat er bereits angetönt und einmal sogar von einem Blutbad geraunt.

Man muss nicht von einem Bürgerkrieg ausgehen, wie das manche Experten tun, aber Unruhen und eine Phase der Instabilität sind wahrscheinlich. Das dürfte für Biden das «Regieren mit ruhiger Hand», wie er es gerne propagiert, zusätzlich zu seiner mentalen Verfassung schwierig machen.

Manche gehen davon aus, dass Trump nach einer Niederlage von der politischen Bildfläche verschwinden wird. Sie glauben, dass er – trotz dem jüngsten Supreme-Court-Entscheid, der seine Immunität ausdehnt – dermassen mit seinen juristischen Problemen beschäftigt wäre, dass für Politik kaum noch Zeit bliebe.

Aber selbst wenn das der Fall sein sollte, so sind die Republikaner inzwischen so weitgehend «trumpifiziert», dass sie den eingeschlagenen Kurs möglicherweise auch ohne Trump weiterführen würden. Auch ohne ihn ist die amerikanische Politik dermassen manichäisch geworden, dass Kompromisse immer schwieriger werden.

Die riskante Zwischenposition

Biden ist als Vermittler und Brückenbauer angetreten, um die verfeindeten Lager zu versöhnen. Als ein solcher «Mann der Mitte» wurde er nach den turbulenten Trump-Jahren gewählt, um wieder Ruhe und Ordnung ins Weisse Haus zu bringen. Dieses Versprechen hat sich nicht erfüllt.

Die politische und ideologische Polarisierung ist in den letzten Jahren in den USA grösser geworden. Dazu hat Biden selbst mit seinen gigantischen staatlichen Investitionsprogrammen beigetragen. Man kann sich zu ihnen stellen, wie man will, aber Kritiker bemängelten zu Recht, dass er eigentlich nicht für solche ehrgeizige, «etatistische» Projekte gewählt wurde.

Die Vertiefung der Gräben ist jedoch nicht allein die Schuld Bidens und der Demokraten, sondern auch der Republikaner. Nach dem Schock des 6. Januar scharten sie sich rasch wieder hinter den Scharfmacher Trump. Die Polarisierung wird vermutlich nicht nur bei einer Wahl Trumps, sondern ebenso bei einem Sieg Bidens zunehmen.

Biden ist mit seinen moderaten Positionen oft zwischen Stuhl und Bank gefallen. Anstatt es allen recht zu machen, hat er am Ende erreicht, dass alle unzufrieden sind. Das betrifft auch seine eigene Partei. Der Präsident wird zunehmend zerrieben zwischen dem linken und dem rechten Flügel der Demokraten sowie gegenwärtig zwischen denen, die ihn als Kandidaten behalten, und denen, die ihn ersetzen wollen.

Exemplarisch zeigt sich seine riskante Zwischenposition beim Hin und Her in der Immigrationsfrage sowie in der Nahostpolitik angesichts des Gaza-Krieges. Die Republikaner und Teile der Demokraten werfen ihm vor, nicht kompromisslos genug für Israel einzustehen. Linke Teile seiner Partei hingegen halten ihm eine mangelnde Parteinahme für die Palästinenser vor.

Am Ende steht der Eindruck eines unentschiedenen Lavierens, einer mangelnden Entschlussfähigkeit, gerade im Gegensatz zu Trump, dem jede Ambivalenz fehlt.

Viele Amerikaner wählen Biden nicht aus Begeisterung, sondern weil sie Trump ablehnen. Für sie ist Biden das kleinere Übel. Zwar ist sein Leistungsausweis nicht so miserabel, wie man aufgrund der schlechten Umfragewerte – schon vor der TV-Debatte – meinen könnte. Aber die wichtigsten Gründe für den Vorbehalt lassen sich nicht wegdiskutieren: Bidens Alter und der Zweifel an seiner geistigen Fitness.

Diese Schwächen werden zunehmen und sich immer weniger verstecken lassen. Die Zeit und der Alterungsprozess lassen sich bekanntlich nicht umdrehen – Biden wird nie mehr jünger werden.

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