Montag, November 25

Angesichts der zunehmenden Naturgefahren und der Zersiedelung steht die Politik vor unangenehmen Entscheidungen. In der ganzen Schweiz leben 1,8 Millionen Einwohner in gefährdeten Gebieten.

Es war ein einziger Satz, mit dem Lukas Rühli Anfang Juli die halbe Schweiz gegen sich aufbrachte. «Es gibt sicher einzelne Täler und einzelne Siedlungen, für die sich die Frage stellt, ob sie in Zukunft noch aufrechterhalten werden können», erklärte der Forschungsleiter der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse in der SRF-Sendung «10 vor 10». Es waren die Tage, in denen verstörende Bilder von Unwettern aus dem Tessin, dem Wallis und dem Misox die Schweiz beschäftigten.

Die emotionalen Reaktionen aus den betroffenen Gebieten waren garantiert. Im gleichen Fernsehbeitrag wehrten sich Vertreter aus von unmittelbar von Murgängen und Felsstürzen betroffenen Gemeinden dagegen, dass ihre Siedlungen angeblich geräumt werden sollten. Der Bündner SP-Nationalrat Jon Pult sprach von einer zynischen Forderung, «wenn man den Leuten aus finanziellen Gründen die Heimat wegnehmen will». Das Klischee vom kalten Zürcher Wirtschaftstheoretiker, der ganze Bergtäler entvölkern will, wurde im Katastrophensommer 2024 in zahlreichen Medienberichten aufgegriffen.

40 Millionen für 80 Einwohner

Nur: Rühli hat eine solche Forderung nie aufgestellt. «Ich habe nie gesagt, dass man ganze Täler oder einzelne Siedlungen aufgeben soll», erklärt er auf Anfrage der NZZ. «Es ist jedoch klar, dass angesichts der zunehmenden Unwettergefahren solche Kosten-Nutzen-Analysen für Schutzmassnahmen häufiger werden.»

Ein illustratives Beispiel für eine solche Analyse ist das Bündner Dorf Brienz. Spätestens seit dem vergangenen Dienstag, als die rund 80 Einwohner aufgefordert wurden, ihr Dorf nach dem Frühling 2023 zum zweiten Mal zu räumen, ist Brienz eine Siedlung auf Bewährung. Bisher schien es, als sei das Preisschild für die Aufrechterhaltung des Dorfes klar. Für 40 Millionen Franken wird zurzeit ein Entwässerungsstollen in den abrutschenden Hang getrieben. Sollte das schlimmstmögliche Szenario eintreten, ist das Bauwerk – das Ende der Bohrarbeiten ist erst für 2027 geplant – nutzlos und wird einen Schuttkegel entwässern, der das Dorf längst unter sich begraben haben wird.

Rühli unterstreicht, dass er die Gegebenheiten vor Ort nicht kennt, und äussert sich deshalb zurückhaltend. Dennoch meint der Experte: «Angesichts der 80 Personen, die in diesem Gebiet wohnen, drängt sich die Frage auf, ob sich der Aufwand lohnt.» Andererseits würden die Linie der Rhätischen Bahn, die Kantonsstrasse und eine Hochspannungsleitung über das rutschende Gebiet verlaufen. «Es sind sehr heikle Güterabwägungen, die hier getroffen werden müssen. Ich beneide die Verantwortlichen nicht», sagt Rühli.

Es ist ohnehin eine Illusion, zu glauben, dass Politiker nach Gutdünken über die «Schliessung» von gefährdeten Gebieten entscheiden können. Wenn es hart auf hart kommt, legt die Natur die Grenzen fest. Dies mussten Ende 2023 rund 40 Bewohner des Glarner Dorfs Schwanden erfahren. Nachdem ein gewaltiger Erdrutsch ihr Quartier zerstört hatte, erstellten die kantonalen Behörden eine Ereignisgefahrenkarte. Sie zeigt auf, dass rund 30 Liegenschaften in der roten Zone liegen und nicht mehr bewohnt werden dürfen.

Technisch ausgedrückt heisst dies, dass das individuelle Todesfallrisiko in diesem Gebiet einen bestimmten Grenzwert überschritten hat. Dieses Ziel ist nicht verhandelbar. Dem Gemeinderat blieb angesichts der bestehenden Gefährdung von Leib und Leben deshalb gar nichts anderes übrig, als den Abriss für einige Häuser anzuordnen. In einigen Fällen kann ein solcher Räumungsbefehl befreiend wirken. So sagte der Gemeindepräsident von Schwanden, die Gefahrenkarte sei wie eine Erlösung gewesen. Die 40 betroffenen Menschen hätten nun Gewissheit und können sich eine neue, dauerhafte Lösung suchen.

So einfach per Federstrich werden in der Schweiz keine Gebiete entvölkert und Häuser zum Abbruch freigegeben. Dies zeigte sich vor einigen Jahren in Weggis (LU). Der steuergünstige Ort am Vierwaldstättersee liegt nicht im klassischen Berggebiet. Nach heftigen Unwettern im Jahr 2005 musste die Gemeinde die Gefahrenkarte überarbeiten. Dabei kamen die Behörden zu dem Schluss, dass 5 Häuser in einem Steilhang am Fuss der Rigi extrem stark durch Steinschlag gefährdet seien und deshalb abgerissen werden müssen. Die Behörde erachtete diese drastische Massnahme als sicherste und günstigste Variante. Umsiedlung, Felssicherungen und geplanter Abbruch der Häuser kosteten rund 6 Millionen Franken.

Die Eigentümer einer Liegenschaft akzeptierten den Entscheid nicht und zogen den Fall bis vor Bundesgericht. Das oberste Gericht hielt 2014 fest, die Enteignung diene vorwiegend der Sicherheit der Bewohner. Durch eine Aufforstung soll sichergestellt werden, dass sich inskünftig keine Personen in unkontrollierter Weise in den Gefahrenbereich unterhalb der Felspartie begeben. Das Bundesgericht lehnte es auch ab, in diesem Fall die Entschädigung für das enteignete Grundstück nach dessen Baulandwert zu bemessen.

1,8 Millionen leben in gefährdeten Gebieten

Das Beispiel Weggis zeigt, dass nicht nur die Bergregionen von Naturereignissen betroffen sind. Laut Bund leben in der Schweiz rund 1,8 Millionen Menschen in potenziell gefährdeten Gebieten. Den grössten Schaden richten Überschwemmungen, Murgänge und Stürme denn auch nicht in abgelegenen Bergtälern an, sondern in Siedlungsgebieten im Flachland. «Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden vermehrt Häuser in Hochrisikogebieten gebaut», sagt Rühli. Für viele dieser Bauten werde in absehbarer Zeit eine Kosten-Nutzen-Gefahren-Analyse notwendig sein.

Ein Blick nach Brienz, Schwanden und Weggis lohnt sich also auch für scheinbar Nichtbetroffene. Die forcierte Bebauung von See- und Flussufern auch im urbanen Raum beziehungsweise von Überschwemmungsgebieten etwa birgt nach jedem Starkregenfall enorme Risiken.

Die Kosten für bauliche Schutzmassnahmen und die Behebung von Schäden sind zwar im alpinen Raum pro Kopf gerechnet erheblich höher. Nehmen Naturereignisse tatsächlich weiter zu, dann betreffen sie statistisch überwiegend das zersiedelte und stark bevölkerte Mittelland. Die Schweiz wird sich in baldiger Zukunft tatsächlich mit der Frage konfrontiert sehen, ob sie sich im Alpenraum teuren Heimatschutz leisten kann. Grossflächige Aufräumarbeiten im Unterland oder präventive Renaturierungen kosten aber auch regelmässig eine Stange Geld.

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