Samstag, November 23

Auf Youtube sind Survival-Videos ein Renner. Und Resilienz ist das Modewort der Zeit geworden. Es sind Symptome einer Gesellschaft, die vor lauter Krisen die Zuversicht verloren hat.

Im Glossar der Stichworte zur Gegenwart würden «Angst» und das «Gefühl der Gefahr» heute wohl sehr weit oben rangieren. Die Angst ist oft nicht einmal auf eine konkrete Bedrohung gerichtet, sondern mehr das, was Botho Strauss einmal in einer schlauen Formulierung «Terror des Vorgefühls» nannte. Es grassiert die peinigende Intuition, dass der Boden schwankend wird.

Das führt nicht unbedingt zu einem apokalyptischen Weltgefühl, aber zum Empfinden: Die Dinge werden schlechter, es kann einen jeden erwischen, ein paar Dinge können so richtig unbequem werden, und man hat die Sache auch nicht unter Kontrolle. Weder im Grossen (als Gesellschaft) noch im Kleinen (als Individuum). Alles Mögliche ist bedrohlich und, gewiss, alles auf unterschiedliche Weise. Die Angst, etwas Falsches zu sagen, ist etwas anderes als die Angst, ob Europas Innenstädte noch bewohnbar sein werden, wenn die nächsten Sommer noch einmal heisser werden, oder die Angst, ob man demnächst noch seine Rechnungen bezahlen kann – all das sind unterschiedliche Ängste.

Bloss: Unsere Welt ist gerade voll von ihnen.

Zuwanderung macht vielen Menschen Angst. Herumlungernde junge Männer an den sozialen Brennpunkten, von denen alle Städte einige haben, machen Passanten Angst. Manchen macht auch «der Islam» Angst. Angst neigt bekanntlich auch dazu, sich im Extremfall der gesamten Existenz zu bemächtigen, tief in das Subjekt hineinzukriechen und auch da, wo rationale Gründe sind, ins Paranoide umzuschlagen. In Erfurt führte die diffuse Angst vor dem Islam sogar dazu, dass sich ein Pastor schon 2006 per Selbstverbrennung das Leben nahm, um so die Christen aufzurütteln.

Standardtrick von Agitatoren

Medien und Agitation spielen im Kontext der Angstepidemie sicherlich eine Rolle, schon Leo Löwenthal bemerkte in seinen Studien über die «falschen Propheten», dass «die Anhäufung von erfundenen Schrecken auf wirkliche» ein Standardtrick von Agitatoren ist. Und doch ist der Verdacht zu einfach, dass «die Ängste» primär von politischen und medialen Angstunternehmern gemacht werden.

Ängste sind heutzutage schliesslich durchaus gut begründet. Die Angst vor den Folgen des Klimawandels, das Gefährdungsgefühl durch eine Welt, die chaotischer wird und deren Kriege und Spannungen auch den Bürgern (West-)Europas näher rücken, die ökonomischen Abstiegsängste und die Ängste vor Statusverlust; auch die Angst, im kleinen Kreis durch ein vorsätzlich missverstandenes Wort Streit und Hader auszulösen oder im grösseren Kreis gecancelt oder an den Social-Media-Pranger gestellt zu werden; die Angst vor islamistischem Terrorismus, genauso wie die Angst vor rechten Extremisten, die Liberalität, Pluralismus und Modernität attackieren können; die Angst, ganz generell, vor dem Steigen eines Gereiztheitspegels, der Aggression und Gewalt triggert.

Man könnte die Panik bekommen, wüsste man nicht, dass Panik ein schlechter Ratgeber ist.

Die Shell-Jugendstudie ergab für Deutschland, wovor junge Menschen besonders Angst haben. In absteigender Reihenfolge: Krieg in Europa, Armut, Umweltverschmutzung, wachsende Feindseligkeit zwischen Menschen, soziale Ungleichheit, Klimawandel, Terroranschläge, Ausländerfeindlichkeit, Krankheit, Gewalt, Arbeitslosigkeit, Diebstahl, Zuwanderung nach Deutschland.

Angst essen Seele auf. Wie ein Nebel breitet sie sich aus. Sie wabert mehr umher, als dass sie greifbar wäre.

In amerikanischen psychiatrischen Kreisen ist heute der Begriff der «climate anxiety» schon ein gängiges Schlagwort. Eine Studie der American Psychiatric Association zeigt, dass bereits die Hälfte der Amerikaner davon überzeugt ist, dass der Klimawandel die psychische Gesundheit der Nation beeinträchtige. Das mag etwas hoch gegriffen sein.

Studien der Yale University ergaben freilich, dass rund 64 Prozent der Amerikaner zumindest irgendwie durch die Klimakrise beunruhigt sind. Beunruhigung ist ja noch kein Problem, «aber es wird dort zu einem, wenn es als erdrückend oder zehrend empfunden wird» (so Anthony Leiserowitz von der Yale School of the Environment). 10 Prozent der Befragten, so der Yale-Forscher, äusserten in den Studien, nervös, ängstlich, extrem angespannt zu sein, 7 Prozent sagten, dass sie merkten, die Freude am Leben zu verlieren. Und wiederum 27 Prozent bekundeten, so wenig als möglich daran zu denken.

Es ist ein ganzes Krankheitsbild, das auch durch das Ohnmachtsgefühl verstärkt wird, das Empfinden, «sie wissen nicht, was sie tun sollen». Von den 16- bis 25-Jährigen, so ergab eine Megastudie in zwölf Nationen von den USA bis Nigeria, die im Medizinmagazin «The Lancet» veröffentlicht wurde, sagen 50 Prozent, sie empfänden «Traurigkeit, Angst, Zorn», aber auch «Macht- und Hilflosigkeit». Mehr als 45 Prozent geben an, ihre Gefühle über die Klimakrise beeinträchtigten ihr tägliches Leben und ihr Funktionieren.

Gekühlt durch den Hitzesommer

Gewiss, die persönlichen Geschichten hinter solchen Selbstauskünften sind nicht dokumentiert, und es ist klar, dass es verschiedene Gründe gibt: Die einen haben Angst angesichts der wissenschaftlichen Prognosen, die anderen sind erschüttert von Berichten über den Verlust an Biodiversität – offen gesagt: besser, man beschäftigt sich nicht damit, wenn man nicht depressiv werden will –, wiederum andere spüren die Belastung in zunehmend überhitzten Städten längst am eigenen Leib, und wieder andere waren selbst von Naturkatastrophen betroffen.

Wenn dein Haus einmal unter Wasser stand, bist du traumatisiert.

Übrigens, entgegen der «conventional wisdom», die häufig zu hören ist, ist «climate anxiety» in den Unterklassen und der unteren Mittelschicht offenkundig weiter verbreitet als in der oberen Mittelklasse und den Eliten. Anthony Leiserowitz hat dafür eine nüchterne Erklärung: «Wenn du aus deinem klimatisierten Eigenheim in dein klimatisiertes Auto steigst und ins klimatisierte Office fährst, kannst du eine Hitzewelle mit 40 Grad Celsius eher noch als leichte Unannehmlichkeit empfinden.» Wer Hitzesommer wie diesen in schlecht gedämmten Sozial- oder Innenstadtwohnungen verlebt, hat zwangsläufig ein anderes Problemempfinden als jemand in der Villa im Grüngürtel.

In Wien beispielsweise gab es im vergangenen Sommer in der Innenstadt 53 Tropennächte (in den Wohnungen wird es da nachts selten kühler als 26 Grad). In den erhöht gelegenen Wohlstandszonen am Stadtrand wie Döbling dagegen wurden nur 25 Tropennächte dokumentiert.

Wie auch immer, bei gröberen Formen von «climate anxiety» haben wir es mit klinischen, psychiatrischen Angststörungen zu tun. Es liegt übrigens der Verdacht nahe, dass sowohl Sorgen und Überbelastung als auch das rabiate Verleugnen des Problems Symptome einer solchen Angststörung sind.

Werden unsere Gesellschaften zu Angstgesellschaften?

Die Ängste, welche die Individuen ergreifen und sich in diese hineinfressen, sind noch nicht einmal richtig analysiert, obwohl in der vergangenen Dekade Angst zunehmend zu einem Thema wurde. Der deutsche Soziologe Heinz Bude schrieb schon vor zehn Jahren über die «Gesellschaft der Angst». Aber bei diesen Angstanalysen ging es vor allem um ökonomische Prekarität und das Hamsterrad von Lockung und Drohung, das die Arbeitswelten bis in die gehobene Mittelschicht zu beherrschen begann. «Angst erschöpft», bemerkte Bude.

Oliver Nachtwey hat das in seinem Soziologie-Bestseller «Die Abstiegsgesellschaft» analysiert. In der Aufstiegsgesellschaft fahren alle nach oben – wenngleich unterschiedlich schnell und unterschiedlich hoch –, in der Abstiegsgesellschaft fahren dagegen die einen nach oben, die anderen nach unten und müssen strampeln, damit sie ihren Status halten – mit allen psychopolitischen Folgen.

Heute aber ist das «Gefühl der Gefährdung», das Empfinden, einem permanenten Stress aus ökonomischem Druck, elementarer Gefährdung, nebelhafter Unsicherheit und trüben Zukunftsaussichten ausgesetzt zu sein, existenzieller und verbreiteter geworden.

Krisen wurden als Einbrüche ins Leben erlebt: erst die Corona-Pandemie, mit der auch jene die Erfahrung eines Ausgesetztseins machten, deren konkrete Betroffenheit sich am Ende in Grenzen hielt; kurz darauf Inflationskrise, Energiekrise, Kriege. Es ist ein Stress, der, wenn man ihm permanente Aufmerksamkeit schenkt, tatsächlich zum Krankheitsbild eskalieren kann.

Immer volle Powerbanks

Symptomatisch für das Angstgeschehen in der Gefährdungsgesellschaft ist, dass Begriffe wie Resilienz Karriere machen – also, wie man bei all dem Stress gesund bleibt (etwa, indem man ihm nicht die ganze Aufmerksamkeit widmet). Survival-Videos kursieren auf Youtube und werden zum Renner. Auch das Horten eines Notvorrats, seit den fünfziger Jahren eher ein schrulliges Hobby, ist wieder in Mode gekommen und wurde jüngst von der Regierung in Bern empfohlen. Gegen gröbere Extremwetterereignisse hilft eine Reserve an Mineralwasser, gegen den Energie-Blackout die Anschaffung eines Kurbelradios. Stets voll aufgeladene Powerbanks können bei keinem der Risiken schaden.

Die Philosophin Martha Nussbaum hat unlängst einen Grossessay über das «Königreich der Angst» geschrieben. Angst führe, schreibt sie, «eher zu aggressiven Strategien der Distanzierung von ‹den Anderen› als zu nützlichen Analysen», die Angst sei nicht nur primitiv, «sondern auch asozial». Sie «vertreibt alle Gedanken an andere», und wenn wir Angst haben, «ziehen wir voreilig Schlüsse und schlagen zu, bevor wir über das Wer und das Wie sorgfältig nachgedacht haben».

Was uns dieses Wissen aber helfen soll, ist eine andere Frage: dass Angst dumm macht – geschenkt. Aber sag das einmal der Angst, wenn du sie hast.

Das Hamstern hat eine sozialpsychologische Dimension. Wenn man sowieso nichts tun kann und über die Geschehnisse keine Kontrolle hat, dann fühlt sich das Hamstern wie eine sinnvolle Tat an, mangels anderer sinnvoller Planungshandlungen. Wir fühlen uns einfach besser, wenn wir etwas kaufen. Zu Beginn der Covid-Krise lachten wir darüber, dass gerade Toilettenpapier im Zentrum der Hamsteraktivitäten stand. Und warum überall auf der Welt? Ein Mirakel: Die Corona-Pandemie war überall, von Korea bis Hongkong, von Berlin über Wien bis New York und Neuseeland, mit Unterleibshygiene verbunden und ging als «The 2020 Toilet Paper Crisis» in die Berichterstattung ein.

Das hat mit dem neuen Strukturwandel von Öffentlichkeit und den Shitholes der Social Media zu tun, aber auch mit der allgegenwärtigen Bereitschaft, Menschen, deren Meinungen man nicht teilt, nicht als Menschen zu behandeln – sondern als moralisch verkommene Subjekte, die dann als gänzlich verdammenswürdige Personen dastehen.

Es wächst bekanntlich auch die Angst, Konflikte zu wecken. Mag auch die Cancel-Culture nicht selten hysterisch übertrieben dargestellt werden, so ist es doch eine berechtigte Befürchtung, heute durch ein falsches Wort an den Pranger zu geraten, als eine Person karikiert zu werden, die wir gar nicht sind, und im Extremfall mit dem sozialen Tod bedroht zu sein. Diskurse sind Minenfelder geworden, man bewegt sich, als würde man auf rohen Eiern gehen.

Paranoide Institutionen

Überall Ängste – und dabei kann man in der Erfolgsgesellschaft, in der jeder angehalten ist, die eigene Bedeutsamkeit herauszustreichen, und Marketing seiner selbst betreiben muss, davon ausgehen, dass viele Ängste gar nicht artikuliert werden.

Auch das ist eine Ursache dafür, dass das wachsende Angstniveau nur als vages Grollen wahrgenommen wird. Angststörungen werden unterdrückt, solange es geht, und mit Schweigen umgeben. Das Krankheitsbild der Depression ist mit einem Stigma verbunden, was wahrscheinlich zum Aufstieg der Diagnose Burnout geführt hat, eines Krankheitsbildes, das wenigstens stolz wie ein «Verwundetenabzeichen der Leistungsgesellschaft» (Wolfgang Schmidbauer) getragen werden kann. Über quälende Ängste spricht man besser nicht.

Und die Ängste anderer werden überhaupt nicht wahrgenommen. Es ist paradox: Personen mit hohem Status haben zwar die respektierte Sprecherposition, die ihnen überhaupt erlauben würde, ihre Ängste zu äussern (sie tun es aber höchstwahrscheinlich nicht, um ihr Prestige nicht zu verspielen), während Personen mit niedrigem Status mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sehr viel mehr Ängste haben, aber gar nicht in der Position sind, dass man ihnen wirklich zuhört. Sie sind die «Anderen», die, «die Probleme machen», wenn an ihnen etwas nicht stimmt.

Man versuche sich einen Augenblick nur in eine Migrantin zu versetzen, die von Jahr zu Jahr neuerlich um eine Aufenthaltsbewilligung oder Duldung bangen muss, chronische Instabilität erlebt, und in die Ängste, die mit solch wackeliger Existenz verbunden sind. Wenn schon das Klingeln des Postboten Panik auslöst und der tägliche Gang zum Briefkasten angstbesetzt ist.

Unlängst kam mir der Begriff – er ist bestimmt noch nicht gängig – «paranoide Institution» unter. Der Philosoph Achille Mbembe hat ihn für die Sklavenplantagen geprägt: eine Form des Unternehmens, das Menschen die grundlegenden Rechte raubt, ihnen ihre Kinder und Familien stiehlt, das dadurch aber logischerweise in der Situation ist, dass die Mehrzahl der in der Plantage versammelten Personen am liebsten die Herrschenden verjagen und ihre Häuser anzünden würden. Die «paranoide Institution» ist in permanenter Angst vor den Aufständen, deren Ursache sie selbst ist.

In abgewandelter und natürlich kaum vergleichbarer Form sind aber heute viele Institutionen zu «paranoiden Institutionen» geworden, die stets auf der Hut sind, keinen Fehler zu begehen, damit sie nicht ins Kreuzfeuer von Kritik, Delegitimierung oder Skandalisierung geraten. Misstrauen, Feigheit, Kontrollwahn und der Anreiz, am besten nichts zu tun, sind die Folge und grassieren von der Spitze der Hierarchie herab – wenigstens ein Trickle-down-Effekt, den es tatsächlich gibt.

Auch aus diesem Grund zählen Spitzenpolitiker zu den paranoidesten Sozialfiguren überhaupt.

Das mag für angsterfüllte Beherrschte ein leiser Trost sein: Die da oben haben mindestens so viel Angst, wie man selbst hat.

Robert Misik, Jahrgang 1966, lebt als Journalist und politischer Schriftsteller in Wien. Zuletzt ist 2022 in der Edition Suhrkamp erschienen: «Das grosse Beginnergefühl: Moderne, Zeitgeist, Revolution».

Exit mobile version