In vielen Ländern agieren Gerichte übergriffig und schränken die Politik ein. Sie handeln mit dem Ziel, die Demokratie zu verteidigen. In Wahrheit schaden sie ihr.
Marine Le Pen hat EU-Gelder veruntreut und wurde deswegen verurteilt. Bald wird sie eine Fussfessel tragen müssen. Vor allem aber haben französische Richter ihr das passive Wahlrecht entzogen. Die Politikerin kann bei der nächsten Wahl nicht mitmachen. Die Richter beriefen sich dabei auf eine Entscheidung des Verfassungsrates. Dieser hielt im März im Falle eines verurteilten Gemeinderates fest, dass Veruntreuung und Amtsmissbrauch die demokratische Integrität eines Amtsträgers untergraben würden. Darum ziehen die Richter Le Pen präventiv aus dem Verkehr. Zum Schutz des Vertrauens der Bürger.
Viele Medien sind zufrieden bis euphorisch über diese richterliche Fürsorge: Der Rechtsstaat, ja die liberale Demokratie, hätten triumphiert. Obschon Le Pen nicht für ihre rechtsnationale Gesinnung bestraft wird, gibt es im Establishment doch eine grosse Genugtuung darüber, dass die Richter den Job erledigt haben, den man den Bürgern zunehmend nicht mehr zutraut: die Rechtspopulistin abservieren, als künftige Präsidentin unmöglich machen.
Gleichzeitig hat das Urteil auch Skepsis ausgelöst. «Wir befinden uns nicht mehr im Bereich des Rechts, sondern im Bereich der Moral – einer rachsüchtigen Moral», kommentierte der französische Philosoph Alain Finkielkraut in der NZZ. Anders als die französischen Richter kann er keine Beweise vorlegen, nur Indizien.
Misstrauen gegenüber den Bürgern
Wenngleich das Urteil gegen Le Pen juristisch vertretbar ist, kann man sich fragen, ob es klug ist, eine prominente Politikerin von einer demokratischen Wahl auszuschliessen. Die Antwort ist eindeutig: Es ist eine demokratische Dummheit. Denn das Urteil ist letztlich nichts anderes als eine Bevormundungsmassnahme.
Der Staat schränkt die Wahl der Bürger ein, weil er ihnen misstraut. Dass Le Pen nun über eine Rechtsprechung stolpert, die sie als Politikerin in der Vergangenheit selbst unterstützt hat, ist die tragikomische Fussnote der Geschichte.
Die Fälle, in denen Richter aktiv ins politische Geschehen eingreifen, häufen sich. In Amerika versuchte ein gliedstaatliches Gericht 2023, Donald Trump von der Wahl auszuschliessen. In Rumänien hat das Verfassungsgericht im Dezember 2024 die Wahlen für ungültig erklärt, weil diese mutmasslich von Russland manipuliert worden seien. Später wurde der Rechtsextremist Calin Georgescu von der Wiederholungswahl ausgeschlossen, auch hier beruft man sich auf das Verfassungsgericht. Obschon bis heute keine stichhaltigen Beweise vorgelegt werden konnten, lassen sich die politischen Gegner Georgescus als Retter der Demokratie feiern.
Die Beispiele sind unterschiedlich, doch zeigen alle gleichermassen, wie problematisch es ist, wenn sich die Justiz allzu engagiert in die politischen Prozesse einbringt. Vielleicht wollen die Richter die Demokratie retten, vielleicht wollen sie die Wahl manipulieren, vielleicht legen sie nur Gesetze aus: Im Effekt macht es keinen Unterschied. Ungeachtet ihrer Absicht engen sie die Wahlmöglichkeiten der Bürger ein und erschüttern damit das Vertrauen in die Demokratie.
Kampf gegen Aluhüte
Der Ausschluss von Personen und Parteien von Wahlen ist per se fragwürdig. Es leuchtet nicht ein, wieso ein Richtergremium besser Bescheid wissen soll, wer gewählt werden darf und wer nicht. Demokratien basieren auf einer kritischen Öffentlichkeit mündiger Bürger. Ihr Kitt ist das Gespräch und seine Vervielfachung in der medialen Debatte. Wer nicht darauf vertraut, dass dieses grosse Gespräch zu annehmbaren demokratischen Entscheiden führt, sollte sich konsequenterweise nicht als Verfechter der Demokratie aufspielen. Denn das ist die Demokratie.
Gerade in Deutschland können sich übergriffige Richter sogar ein hohes Ansehen erwerben. Denn hier ist das Vertrauen in das Volk besonders gering. Im Grunde steht es permanent unter Verdacht, an der Urne wieder Unsinn anzurichten. Nach dem Prinzip «Wehret den Anfängen . . .» bekämpfen die etablierten Parteien die AfD mit ihrer Brandmauerpolitik – das fing schon an, als die Partei noch eine harmlose Euro-kritische Professorenpartei war. Drohend wird auch immer wieder ein Parteienverbot ins Spiel gebracht. Mit dem Aufkommen populistischer Parteien werden viele Bürger zunehmend als suspekte Subjekte wahrgenommen und mit entsprechenden Etiketten versehen: Wutbürger, Aluhüte, Schwurbler. Die Demokratie sieht sich von innen gefährdet. Zuweilen entsteht sogar der Eindruck, als seien Wahlen demokratiegefährdende Momente, die man am liebsten vermeiden würde.
Die verkrampfte Demokratie
Die Wahl von Adolf Hitler ist das demokratische Trauma der Deutschen. Das Resultat daraus ist die sogenannt wehrhafte Demokratie, die eigentlich eine ängstliche und verkrampfte Demokratie ist. Politiker haben tendenziell Angst, Politik zu gestalten. Lieber verstecken sie sich hinter Gesetzen. Diese Entwicklung der deutschen Demokratie ist historisch nachvollziehbar, fatalerweise ist aber just dieser Staat zu einem Modell vieler Demokratien weltweit geworden – und nicht Grossbritannien oder die Schweiz.
Nach dem Zweiten Weltkrieg installierten vor allem die ehemals faschistischen Länder – Deutschland, Japan, Italien – starke Gerichte. Die Geschichte sollte sich nicht wiederholen. Eine grundlegende Stärkung der Gerichte erfolgte allerdings in vielen Ländern erst um die 1990er Jahre beim Zusammenbruch des Ostblocks. Nun eiferten viele der ehemals sozialistischen Länder den Deutschen nach, um sich möglichst schnell fit zu machen für die Europäische Union. Der Stellenwert der Menschenrechte nahm sprunghaft zu. Bald zog Lateinamerika nach, auch hier rüsteten sich die Länder mit mächtigen Gerichten gegen demokratische Unwägbarkeiten.
Eifrige Richter und ihre Mission
Erst in jüngerer Zeit gewann der Begriff der «liberalen Demokratie» an Bedeutung. Der deutsche Politologe Philipp Manow glaubt, dass sie mit dem Aufstieg der Populisten unmittelbar verbunden ist. Ja, dass die liberale Demokratie die Populisten erst hervorgebracht hat. In seinem Buch «Unter Beobachtung» schreibt er: «Populismus ist eine Krankheit, die durch ein neues (. . .) Design der Demokratie hervorgerufen wird.» Indem der Wille des Volks von engmaschigen Gesetzen und zunehmend aktivistischen Gerichten immer mehr eingeschränkt wird, wächst der Widerstand. Dies wiederum ruft eifrige Richter erst recht auf den Plan, um die gefährdete Demokratie noch entschiedener zu verteidigen.
Ob der Aufstieg der Anti-Establishment-Parteien hauptsächlich in der Verrechtlichung des Politikbetriebs wurzelt, ist eine Spekulation. Evident ist aber die beschriebene politische Dynamik. Manows Theorie folgend, hat die Suprematie des europäischen Rechts durch den Europäischen Gerichtshof die Krise noch verschärft. So programmiere zunehmend das Recht die Politik und nicht mehr die Politik das Recht. Denn ein supranationales Gericht greift im Zweifel noch unzimperlicher in die Politik ein, und die nationalen Parlamente und Regierungen verlieren noch mehr an Gewicht. Das führt zu Manows berechtigter Frage: «Wer schützt eigentlich die Politik vor dem Recht?»
Die Elite soll sich kümmern
Die Vorstellung, dass Verfassungsgerichte politisch neutrale Instanzen sind, die über fast ewig gültige Grundsätze walten, ist naiv. Sie sind politische Player, und je aktivistischer sie agieren, desto mehr werden sie auch politisch bekämpft. Das zeigte sich in Polen, Ungarn und in Israel deutlich. Darin von vornherein einen Angriff auf die Demokratie zu sehen, wäre falsch. Parteien versuchen ihre Politik durchzusetzen, kommen sie in den Clinch mit dem Verfassungsgericht, versuchen sie dieses entweder zu entmachten oder aber zu kapern. Ist der Supreme Court in Amerika demokratisch geprägt, applaudieren die Linken, und die Rechten finden ihn hochproblematisch. Ist er rechts, freuen sich die Republikaner. Im Falle der Abtreibungsfrage zeigt sich, wie diese Richter über Jahrzehnte dann zu völlig unterschiedlichen Urteilen gekommen sind. Und immer wendeten sie das Recht an.
Merkwürdigerweise erwecken gerade Politiker, Journalisten und Intellektuelle, die die Demokratie ganz besonders schützen wollen, oft den Eindruck, als handle es sich bei ihr um eine Veranstaltung von Trotteln. Deshalb sehen sie alle relevanten politischen und rechtlichen Fragen lieber in der Verantwortung einer Elite. So tief ist das Misstrauen in die Bürger.
Entscheidend ist der gesellschaftliche Konsens
Die Schweiz steht für eine erfolgreiche Demokratie, die ohne Verfassungsgericht auskommt. Zwar gab es auch hier Versuche, ein solches einzurichten, aber bisher ohne Erfolg. Im Interesse des Souveräns ist es jedenfalls nicht, wenn die Willensäusserung einer demokratischen Mehrheit von einem Verfassungsgericht ausgehebelt werden kann. Allerdings kollidiert auch die Schweiz immer wieder mit supranationalen Gerichten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hiess etwa eine Klage der «Klima-Seniorinnen» gegen die Klimapolitik der Schweiz gut. Die Richter erhoben Klimaschutz zum Menschenrecht. Je politischer diese Gerichte agieren, desto mehr verlieren ihre Urteile an Glaubwürdigkeit und Akzeptanz.
Natürlich braucht die Demokratie Rechtssicherheit und unabhängige Gerichte, die die Freiheitsrechte der Bürger schützen. Es braucht jedoch keine Richter, die die Demokratie nach ihrem politischen Geschmack gestalten. Ob ein Politiker gewählt werden darf oder nicht, ist eine politische Frage. Am Ende sollen die Bürger entscheiden, ob sie einen mutmasslichen Vergewaltiger oder eine Betrügerin an der Spitze ihres Staates wollen – oder eine Kandidatin mit blütenweisser Weste. Eine Demokratie, die sich auf Richtersprüche anstatt auf den gesellschaftlichen Konsens stützt, steckt in der Krise. Sie dürfte über kurz oder lang scheitern. Wie bringt man aber diesen gesellschaftlichen Konsens in Erfahrung? Mit einem starken Parlamentarismus, und indem die Bevölkerung konsultiert wird. Daraus wächst das Vertrauen in den Staat.