Sonntag, September 8

Die Staaten des Kontinents haben ihre Armeen vernachlässigt. Nun müssen sie das Versäumte nachholen. Sie geben das Geld aber auf wenig wirtschaftliche Art aus. Das freut bloss die Rüstungsfirmen.

Wer im Schweizer Militär Dienst leistet, weiss, wie ineffizient eine Armee sein kann. Man steht sich stundenlang die Beine in den Bauch und wartet auf Befehle. Die Wirtschaft finanziert die Übung mit, denn die tapferen Soldaten erhalten das Salär vom Arbeitgeber weiter trotz Abwesenheit vom Arbeitsplatz. Armee einerseits und Effizienz sowie Effektivität andererseits – das schliesst sich oft aus.

Derzeit und wohl auch künftig wird uns das Gut Sicherheit besonders teuer zu stehen kommen. Die EU-Länder fürchten sich vor dem aggressiven Gebaren Russlands und einem Wahlsieg Trumps, dessen Haltung zur transatlantischen Partnerschaft schwankend ist. Sie, die übrigen Nato-Mitglieder und die Schweiz rüsten daher auf. Für gewisse Ökonomen ist das auch aus der Sicht der Standortförderung geboten: Firmen könnten Europa als Investitionsort meiden, weil sie sich auf dem Kontinent nicht mehr sicher fühlten, sagte der Wirtschaftsprofessor Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft jüngst.

Trotz viel Geld schlechte Armeen

Allerdings geschieht die Aufrüstung auf eine wenig effiziente Weise. Die Nato-Mitglieder sind dazu angehalten, zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung (BIP) für die Verteidigung auszugeben. Ökonomisch ist ein solches Vorgehen fragwürdig, denn die Ausgaben richten sich nicht nach klaren militärischen Bedürfnissen, sondern nach dem Schwellenwert. Dieser ist zu einer Art Fetisch geworden. «Man kann sehr viel Geld ausgeben und trotzdem eine schlechte Armee haben», sagt Sven Biscop, Politik-Professor am Brüsseler Egmont Institute, im Gespräch.

Ökonomisch effizient und effektiv wäre es, wenn die EU über eine vollständig ausgerüstete Armee verfügte. Dazu hat es in den vergangenen siebzig Jahren viele und teilweise ernsthafte Versuche gegeben. Alle scheiterten jedoch. Als es nach vielen Sitzungen ans Umsetzen ging, haben die Mitgliedsstaaten die Verteidigung plötzlich wieder als Domäne der nationalen Souveränität angesehen. Daran hat sich trotz Ukraine-Krieg nichts geändert.

Europa wird daher auch weiterhin wenig wirtschaftlich in die Rüstung investieren. Die Furcht vor Russlands Präsidenten Wladimir Putin ist gross, allerdings ist die Finanzkraft des Aggressors deutlich geringer als diejenige der EU.

Im Jahr 2022 haben die 27 EU-Länder laut der European Defence Agency 240 Milliarden Euro für die Verteidigung ausgegeben. Das sind 1,5 Prozent des BIP. Russland wendete 92 Milliarden Euro auf, was 4,3 Prozent des BIP entsprach. Um das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen, müssen die EU-Staaten die jährlichen Ausgaben um 80 Milliarden Euro steigern.

Die EU-Länder geben mehr aus als Russland

Verteidigungsausgaben 2022, in Milliarden Euro

Auch wenn nicht alle Länder die Verteidigungsausgaben genau gleich definieren, ist der Unterschied zwischen der EU und Russland beträchtlich. Die Länder des Staatenbundes können bei der Verteidigung ihre ganze Wirtschaftskraft in die Waagschale werfen, haben daraus aber erstaunlich wenig gemacht.

Die Armeen der Mitgliedsländer sind teilweise marode, und die EU verfügt selber über keine schlagkräftige Streitkraft, die in der Lage wäre, einen Territorialkonflikt zu führen. «Eine eigene Armee wäre aus wirtschaftlicher Sicht ideal», sagt Biscop. Doch Europas Militärstrategen sitzen eben nicht vor einem weissen Blatt Papier, das Planspiele erlaubt. Vielmehr müssen sie mit dem vorliebnehmen, was politisch machbar ist. «27 einzelne Armeen ergeben aber noch keine komplette Streitkraft», sagt Biscop.

Zu unterschiedlich sind die verwendeten Waffensysteme. Das ist eine Folge der Bevorzugung nationaler Produzenten, aber auch von unterschiedlichen militärischen Vorstellungen. Frankreich favorisiere leichte Panzer, die für Einsätze ausserhalb Europas geeignet seien, meint Jan Joel Andersson vom EU Institute for Security Studies. Deutschland dagegen habe stets auf schwerbewaffnete Vehikel gesetzt, um eine sowjetische beziehungsweise russische Invasion Mitteleuropas bekämpfen zu können.

Ohne die Hilfe der USA sind zudem weder die EU noch die Mitgliedsstaaten imstande, militärische Operationen durchzuführen. Nicht einmal Frankreich, das sich in Teilen Afrikas noch immer als eine Art Ordnungsmacht sieht, schafft das. Besonders bei der Aufklärung mittels Satelliten und Flugzeugen sind die EU und die Mitglieder auf die Unterstützung der USA angewiesen.

Engpässe bei den Produzenten

In dieser Woche hat die EU-Kommission erneut zwei Initiativen lanciert, welche die Mitgliedsländer dazu motivieren soll, bei der Beschaffung stärker zu kooperieren. Bis 2030 sollen 35 Prozent der Rüstungskäufe bei Herstellern des EU-Raumes erfolgen, lautet die Vorstellung.

Aber statt einfach nach Effizienz zu streben, lanciert die EU damit auch ein kleines «Buy European»-Vorhaben. Zusammenarbeit ist zwar sinnvoll, weil die Länder dadurch gleichsam Mengenrabatt erzielen. Gleichzeitig wirkt die Forcierung von Käufen in Europa möglicherweise kostentreibend.

Die Preise für militärische Güter haben sich jüngst stark erhöht, weil die Länder ihre Bestände nach dem Schock des Ukraine-Krieges rasch auffüllen wollen. Jede Armee wolle die Erzeugnisse der nationalen Rüstungsindustrie möglichst als erste erhalten, sagt der Vertreter eines polnischen Herstellers. «Dieser Egoismus begann mit dem Ukraine-Krieg.»

Die Produzenten freuen sich über die steigenden Aufträge, haben aber Mühe, rechtzeitig zu liefern. Es fehlen die Mitarbeiter und die Komponenten. Osteuropäische Hersteller holen daher Arbeiter und Arbeiterinnen sogar aus den Philippinen nach Europa, um die Lücke beim Personal zu füllen.

Seit 2014 steigende Ausgaben

Aufwendungen der 27 EU-Länder für Verteidigung, in Milliarden Euro

Woher die Waffen für Europas Verteidigung kommen sollen, ist ohnehin ein Dauerkonflikt, der den Kontinent spaltet. Beim Luftverteidigungssystem Sky Shield wollen zum Beispiel selbst die neutralen Staaten Schweiz und Österreich mitmachen, Frankreich dagegen ziert sich. Bestandteile des Systems sollen auch aus Israel und den USA kommen, während sich Frankreich eine stärkere Berücksichtigung der heimischen Industrie wünscht.

Fehlende Flugzeuge für den Transport

Nicht einmal die EU-Kommission träumt derzeit von europäischen Streitkräften. Sie hat sich deshalb auf die Position des «Enabler», also des Möglichmachers, zurückgezogen.

Sinnvoll ist daher laut Biscop erstens, dass sich einzelne Staaten zu Clustern zusammenschliessen und Kampftruppen bilden. Zweitens kann eine Gruppe von 10 bis 15 Ländern zu Logistikern werden, indem sie etwa den Lufttransport organisiert oder Drohnenflotten anschafft. Ansätze solcher Projekte gibt es, etwa binationale Truppenverbände oder die Strategic Airlift Capability (SAC). Elf europäische Länder haben sich hier zusammengeschlossen, um Transportflugzeuge zu kaufen und zu betreiben.

Aber auch SAC funktioniert nicht ohne die USA, die Grossmacht ist ebenfalls dabei. Der Mangel an Transportkapazitäten ist laut Experten ein schweres Versagen Europas. «Es wird kompliziert bleiben», sagt Biscop zu den militärischen Bemühungen des Kontinents.

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