Experten warnen vor dem dritten Weltkrieg, Wissenschafter vor dem Ende der Welt: Angst prägt das Lebensgefühl einer Wohlstandsgesellschaft, die ihr Verschontsein nicht mehr erträgt.
Timothy Snyder will die USA verlassen, zusammen mit seiner Frau Marci Shore. Das haben sie kürzlich bekanntgegeben. Beide sind prominente Historiker, Professoren an der Universität Yale. Ihre Entscheidung haben sie aus Protest getroffen. Gegen Donald Trump natürlich. Was sich in den USA abspiele, sei eine Katastrophe, sagt Snyder. Das Land stehe «kurz vor dem freien Fall», schrieb Shore in der Zeitung «Toronto Today». Sie befürchte einen Bürgerkrieg. Und wolle nicht, dass ihre Kinder in einem «repressiven System» aufwüchsen.
Snyder und Shore sind privilegiert. Global Intellectuals, die überall auf der Welt zu Hause sind. Keine Flüchtlinge, die sich darum sorgen müssen, wie sie sich in einem fremden Land eine neue Existenz aufbauen. Was ein «repressives System» ist, wissen sie nur aus Büchern, ihre akademischen Karrieren können sie nahtlos fortsetzen. Sie ziehen nach Kanada, von der einen Eliteuni zur nächsten. In Yale sind Snyder und Shore beurlaubt. Man weiss ja nie.
Sie sind nicht die einzigen Intellektuellen, die den USA medienwirksam den Rücken kehren. Auch der Philosoph Jason Stanley geht nach Kanada. Er ist Faschismusforscher. Vor einigen Tagen sagte er in einem Interview: «Was wir jetzt sehen – das ist Faschismus.» Er meinte das, was sich in den USA abspielt. Die Debatte darüber, ob man Trumps Vorgehen als Faschismus bezeichnen könne oder nicht, sei vorbei, so Stanley. Faschismus sei nicht einfach ein Schimpfwort, sondern ein Konzept, das helfe, die Realität zu verstehen.
Noch 89 Sekunden
Die Realität, das ist in den Augen von Snyder, Shore und Stanley: freier Fall, Bürgerkrieg, Chaos. Und wer diese Realität versteht, kann gar nicht anders, als Angst zu haben. Das sehen nicht nur sie so. Untergangsszenarien haben Konjunktur. Nicht nur mit Blick auf die USA. Klimakrise, Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, Putins Atomwaffendrohung, Spannungen zwischen China und Taiwan und weltweite Handelskriege haben ein Klima der Unsicherheit geschaffen. Beobachter warnen vor dem Erodieren demokratischer Werte, Strategieexperten halten die Gefahr eines globalen Krieges für real.
Timothy Snyder auch. In der Gegenwart erkennt er erschreckende Parallelen zu der Zeit vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Papst Franziskus spricht seit Jahren von einem «Weltkrieg in Stücken». Ende Januar haben Wissenschafter des «Bulletin of the Atomic Scientists» die «Doomsday Clock», die anzeigt, wie weit die Menschheit vom Weltuntergang entfernt ist, auf 89 Sekunden vor Mitternacht gestellt. Eine Sekunde näher am Ende als vor einem Jahr. Die Warnungen der Experten wirken: Bei der letzten Umfrage des deutschen Forsa-Instituts sagten siebzig Prozent der Befragten, sie fürchteten sich vor der atomaren Bedrohung.
Kriegsangst geht um. Und dies interessanterweise auch dort, wo kein Krieg herrscht. Dort vielleicht sogar ganz besonders. In Deutschland, in der Schweiz. Es ist nicht die Angst vor dem, was für die Menschen in der Ukraine und im Nahen Osten alltägliche Realität ist: Sondern vor etwas, was nicht ist, aber von dem man fürchtet, es könnte jederzeit eintreten. Es ist ein diffuses Unbehagen. Angst vor der Angst, die man haben wird, falls das, was man befürchtet, Wirklichkeit werden sollte.
Moralischer Imperativ
Das macht die Angst nicht erträglicher. Vor allem dann nicht, wenn sie so gegenwärtig ist wie die Angst vor dem Untergang. Und erst recht nicht, wenn sie so kräftig bewirtschaftet wird. Von Medien, die wissen, dass sich Schrecken besser verkaufen lässt als Wohlbefinden. Von der Politik, die reale und irrationale Ängste schürt, um Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren. Und von Aktivisten, die uns einreden, angesichts der Weltlage sei es verantwortungslos, keine Angst zu haben.
Angst ist nicht nur ein Gefühl. Sie ist auch eine kostbare politische Ressource. «Ich will, dass ihr in Panik geratet», sagte Greta Thunberg vor einigen Jahren in Davos: «Ich will, dass ihr die Furcht fühlt, die ich jeden Tag fühle.» Sie hatte Tränen in den Augen, ihre Stimme bebte. Die Botschaft war klar: Angst zu haben, ist nicht einfach ein Gefühl. Sondern ein moralischer Imperativ. Wer keine Angst hat, ist entweder unbedarft, verdrängt die Realität oder verfolgt ein politisches Programm.
Das war vor sechs Jahren. Thunberg bezog sich auf die Klimapolitik. Heute ist die Angst noch viel gegenwärtiger als damals. Klimaangst ist in den Hintergrund getreten, die Angst hat sich neue Objekte gesucht: den dritten Weltkrieg, Trump, die Auflösung der alten Weltordnung, einen Angriff Putins auf Europa, den Zusammenbruch der Weltwirtschaft, die bedrohliche neue Weltmacht China. Und die Verhaltensregeln sind strenger geworden. Wer im Angstritual nicht mitmacht, wird zum Aussenseiter.
Wer Angst hat, hat recht
Als der Journalist Harald Martenstein in einer Kolumne schrieb, Weltkriegsgefahr und Klimawandel machten ihm keine Angst, brandete ihm eine Welle der Empörung entgegen. Er leugnete weder, dass die Welt vor gewaltigen Problemen steht, noch fand er, man müsse nichts unternehmen, um sie zu lösen. Er verwahrte sich nur gegen die Pflicht, Angst zu haben. Der Sicherheitsexperte Joachim Krause musste sich vorwerfen lassen, Tatsachen auf fahrlässige Weise zu verharmlosen, weil er die Angst vor einer unkontrollierten Eskalation des Ukraine-Konflikts als «deutsche Krankheit» bezeichnet hatte. Er hatte nur nüchtern argumentiert. Und sich dagegen gewehrt, dass mit Angst politisch Stimmung gemacht wird.
Doch wo Angst herrscht, wird kein Einspruch geduldet. Wer Angst hat, hat recht. «Alle haben Angst», sagte ein Psychologe kürzlich in einem deutschen Wochenmagazin, und das sollte nicht beschwichtigend klingen. Im Gegenteil. Wer keine Angst hat, hiess das, muss sein Verhältnis zur Wirklichkeit überdenken. In Zeitungen, Magazinen und Fernsehsendungen werden Tipps gegeben, wie man mit der Angst umgehen soll. Das Wichtigste: akzeptieren, dass sie da ist und dass es gut und richtig ist, Angst zu haben. Und: weniger Medien konsumieren, schliesslich wird man da jeden Tag mit dem ganzen Weltschlamassel konfrontiert.
Kein Zweifel, die Weltlage ist düster. So düster wie schon lange nicht mehr. Es fällt nicht leicht, Optimismus zu bewahren. Und man kann ja die Augen vor den drohenden Gefahren gar nicht verschliessen. Aber wer Lifestylemagazine durchblättert, Talksendungen anschaut und sich durch Timelines sozialer Netzwerke pflügt, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, die Angst werde fast liebevoll gepflegt. Sie wird zur neuen Volkskrankheit erklärt, als Grundzustand der westlichen Gesellschaft identifiziert und als Modus beschrieben, der das Lebensgefühl einer ganzen Generation präge.
Die Lust der Verschonten
Angst ist der bedrohliche Grundton, der alles durchzieht. Aber zugleich ein wärmender Mantel, den man sich um die Schultern legt, während man über die Katastrophen nachdenkt, die sich in sicherer Distanz abspielen. Da, wo man selbst nicht ist. Die Angst in den westlichen Gesellschaften ist die Angst derer, die verschont sind. Jedenfalls vorderhand.
«Lust am Untergang» hat der deutsche Journalist und Schriftsteller Friedrich Sieburg das in einem Essay genannt. Es sei eine Lieblingsbeschäftigung des modernen Menschen, schrieb er, «die Weltuntergangsstimmung durch scharfsinnige Analysen ins allgemeine Bewusstsein zu heben und sie gleichzeitig doch auch zu geniessen». Der Faszination des nahen Endes könne sich kaum jemand entziehen. «Man versichert uns, dass wir dem Untergang geweiht sind, ja, man beweist es uns.» Und niemand protestiere, im Gegenteil: «Die Unterhaltung belebt sich, die Phantasie kommt in Bewegung. Es ist eine Lust, unterzugehen.»
Das schrieb Sieburg gegen die Mitte der 1950er Jahre. Frankreich zog sich in Indochina aus einem Krieg zurück, der nicht zu gewinnen war, und kämpfte in Algerien die Befreiungsfront brutal nieder. Die Amerikaner zündeten im Pazifik eine Wasserstoffbombe, die über eine bisher unvorstellbare Zerstörungskraft verfügte, während McCarthys Kommunistenjagd in Washington ihren Höhepunkt erreichte. Keine Welt, in der man sich zurücklehnen mochte. Und doch musste man sich mit dem Widerspruch abfinden, dass es einem selbst gutging und man als Europäer Zeit hatte, sich um Dinge zu sorgen, von denen andere nicht einmal zu träumen wagten.
Richtig leben
«Der Alltag der Demokratie mit seinen tristen Problemen ist langweilig», schrieb Sieburg, «aber die bevorstehenden Katastrophen sind hochinteressant», und er schloss: «Wenn wir schon mit unserem Dasein nichts Rechtes mehr anzufangen wissen, dann wollen wir wenigstens am Ende einer weltgeschichtlichen Periode stehen. Richtig leben ist schwer, aber zum Untergang reicht es allemal.»
Richtig leben ist schwer. Erst recht in einer Welt, die von Kräften beherrscht scheint, gegen die man als Einzelner nichts ausrichten kann, solange man nicht Trump oder Putin heisst. Also behilft man sich mit Gesten. Mehr oder weniger lautem Protest, der nichts kostet und mit dem man zumindest zeigt, dass man die richtige Gesinnung hat. Aus den USA auswandern zum Beispiel, auch wenn man den geschützten Lebensraum nicht verlässt, in dem man sich eingenistet hat. Zumindest das schlechte Gewissen kann man so beruhigen.
Angst droht zum Accessoire einer Wohlstandsgesellschaft zu werden, die ihr Verschontsein nicht mehr erträgt. Wir leben in einer schwierigen Zeit, das kann niemand wegdiskutieren. Zugleich geht es uns so gut wie nie zuvor. Das ist schwer auszuhalten. Vielleicht brauchen wir tatsächlich Hilfe, um damit fertigzuwerden. Und womöglich ist es die Angst vor der Katastrophe, die diese Hilfe bietet. Sie lässt uns erschauern. Aber sie gibt uns auch Halt. Das wissen Untergangspropheten seit dem Alten Testament. Und die Apokalypse hat etwas Beruhigendes: Bis jetzt ist sie noch nie eingetreten.