Mittwoch, Oktober 23

Angststörungen sind häufig. Unbehandelt können sie den Alltag und das gesamte Leben eines Menschen überschatten. Um zu helfen, müssen Therapeuten manchmal tief graben.

Ob Tierphobien, Höhenangst oder Angst in engen Räumen – einer von fünf Menschen leidet im Laufe seines Lebens mindestens einmal an einer Angststörung. In der Schweizerischen Gesundheitsbefragung im Jahr 2022 gaben zehn Prozent an, in den letzten zwölf Monaten irrationale Ängste erlebt zu haben.

Die Störung gilt im Allgemeinen als gut behandelbar: Eine Kombination aus Medikamenten und kognitiver Verhaltenstherapie ist das Mittel der Wahl, um krankhafte Ängste in den Griff zu bekommen. Doch was tun, wenn die Behandlung keine Besserung auf Dauer bringt? Dann könnte die sogenannte emotionsfokussierte Therapie (EFT) helfen.

Angst hindert den Patienten daran, zur Schule zu gehen

Bei diesem Ansatz steht die Arbeit an den Gefühlen der Patienten im Fokus. Der Patient soll durch die therapeutisch begleitete Auseinandersetzung mit den hartnäckigen Ängsten auf andere, tieferliegende Gefühle stossen. Sie zu erkennen, soll helfen, auch die Angst langfristig loszuwerden.

Ben* war Anfang 20, als er mit einer emotionsfokussierten Therapie begann. Schon seit seiner Gymnasialschulzeit hatte er unter Ängsten gelitten: Unter anderem fürchtete er, dass seine Eltern stürben, sobald er das Haus verliesse. Dabei waren seine Mutter und sein Vater kerngesund, es gab keinen Anlass für diese Sorge.

Als Ben sich in die Therapie begab, hatte er sich so sehr in seine Angst hineingesteigert, dass er nicht in seine Meisterschule für Schreiner gehen konnte. An den allermeisten Tagen blieb er daheim.

Bei einer Angststörung beherrscht Furcht sämtliche Gedanken, und auch der Körper reagiert auf die Angst. Bei einer Tierphobie beispielsweise erleiden Patienten eine Panikattacke beim Anblick einer Spinne.

Verfestigen sich die Angstgefühle und Angstgedanken, so sprechen Fachleute von einer generalisierten Angststörung. Der Patient ist dann fast immer nervös und unruhig. Verschiedenste Situationen und Aufgaben werden zum unüberwindlichen Hindernis, und der Patient sorgt sich um alles Mögliche. Ein Grund findet sich immer.

Generalisierte Angst durchzieht fast alle Lebensbereiche

So hatte auch Ben nicht nur panische Angst um seine Eltern. Schaffte er es doch einmal, aus dem Haus zu gehen, hatte er Angst davor, mit der U-Bahn zu fahren. Oder er fürchtete sich, Mitschülern zu begegnen. Was er auch tat, es fühlte sich für ihn hochdramatisch an. Seine Diagnose lautete: generalisierte Angststörung.

Ben hatte Medikamente verschrieben bekommen, die angstlösend wirken, und eine kognitive Verhaltenstherapie gemacht. Doch beides hatte nur kurzzeitig geholfen.

Manchmal kommt die irrationale Angst immer wieder zurück

In einer kognitiven Verhaltenstherapie erlernen Patienten, unrealistische Ängste zu erkennen und zu hinterfragen. Der zweite Schritt besteht darin, sich Situationen, in denen sie die Angst überwältigt, bewusst auszusetzen. Wer beispielsweise unter Höhenangst leidet, bekommt die Aufgabe, auf einen hohen Turm zu steigen. Ziel ist es, trotz der Panik – trotz Schweissausbrüchen und Herzrasen – einfach weiter in die Höhe zu steigen.

Die Erfahrung, dass die Furcht unbegründet gewesen ist, wirkt therapeutisch. Patienten können tun, was sie lange vermieden haben. Viele überwinden dadurch ihre Ängste dauerhaft. Auch Ben überwand sich immer wieder, aus dem Haus zu gehen. Aber seine vielfältigen Ängste gingen einfach nicht weg.

Schliesslich suchte er Hilfe bei der Psychotherapeutin Imke Herrmann. Auch sie ist Verhaltenstherapeutin, hat sich aber zusätzlich auf die emotionsfokussierte Therapie spezialisiert.

Kognitive Verhaltenstherapie, sagt die Therapeutin, helfe sehr vielen Patienten. Bei manchen aber bleibe die Angst – über Jahre. Wie bei Ben. «In der EFT wird gezielt danach gesucht, was genau dieser Angst zugrunde liegt», sagt Herrmann.

Eine Reise in die Vergangenheit deckt die Ursache der Angst auf

Massgeblich entwickelt hat die emotionsfokussierte Therapie der Kanadier Leslie Greenberg. Für seine Arbeit wurde er im Jahr 2012 von der American Psychological Association ausgezeichnet. EFT geht – wie die kognitive Verhaltenstherapie auch – von der Annahme aus, dass schmerzhafte Gefühle durch erneutes Durchleben dauerhaft verändert werden können.

Doch wie Patienten dazu kommen, ihre dysfunktionalen Gefühle erneut zu durchleben, darin besteht der Unterschied zwischen den beiden Therapieformen. Vereinfacht gesagt: Wo die Verhaltenstherapie auf Verstehen und Handeln setzt, geht es in der EFT um ein «aktives» Erinnern.

Offenbar können unkontrollierbare Ängste auch ein Symptom sein, ein Hinweis auf ein zugrunde liegendes emotionales Problem. Wie eine zähe Schicht setze sich die Angst auf den «Kernschmerz», wie Greenberg die Ursache für die Angst auch nennt.

Auch der Kernschmerz kann eine Angst sein, muss es aber nicht. Auch Scham oder eine tief empfundene, existenzielle Einsamkeit kann eine Ursache für Angst sein. Oft, sagt Herrmann, sei es eines dieser Gefühle, die einer irrationalen Angst zugrunde lägen.

Bens Therapie dauerte insgesamt über zwei Jahre. Alle paar Wochen fand eine Sitzung statt, dabei trat allmählich ein sehr starkes Schamgefühl zutage. Er erinnerte sich daran, wie er in der Schule jahrelang gemobbt worden war. Damals wäre sein Wunsch gewesen, so erzählt es Imke Herrmann heute, dass sich seine Eltern für ihn eingesetzt hätten, bei seinen Lehrern, bei der Schulleitung.

Stattdessen hielten sie ihm seine Schüchternheit vor – und die Gemeinheit der anderen wurde in seiner Wahrnehmung zu seinem eigenen Fehler. Er schämte sich. Als der Zusammenhang zwischen der generalisierten Angststörung und der tiefsitzenden Scham entdeckt war, liess Bens Angst nach.

Emotionale Aktivierung sei der Schlüssel für eine dauerhafte Veränderung im therapeutischen Prozess, schreibt der Gründer der emotionsfokussierten Therapie im Jahr 2015 im Fachjournal «Behavorial and Brain Sciences». Kurz: Um den Kernschmerz zu entschlüsseln, müssten sich Patienten an Situationen erinnern, in denen unangenehme Gefühle entstanden seien. Gemeinsam mit dem Therapeuten begeben sie sich also auf eine Reise in die Vergangenheit.

Gefühle, die für den Zuschauer erstaunlich klingen

In der Münchner Praxis von Imke Herrmann möchte Petra*, sie ist Mitte 40, auf eine solche Zeitreise gehen. Sie ist dazu bereit, sich bei ihrer Therapiesitzung von einer Journalistin beobachten zu lassen.

Auch Petra leidet seit vielen Jahren an einer generalisierten Angststörung, kennt auch depressive Episoden. Sie hat Momente, in denen «die Angst sie anspringt», wie sie es ausdrückt, oft unvermittelt, oft in Phasen, in denen sie unter hohem beruflichem Stress steht.

Ziel der beobachteten Sitzung soll sein, ein Gefühl, von dem Petra vage vermutet, dass es bei ihr Angst auslöst, genauer zu untersuchen. Weist dieses Gefühl auf den gesuchten Kernschmerz hin?

Petra sitzt auf einem Stuhl und formuliert ein Gefühl, das bei Stress oft an ihr nagt, ein wiederkehrendes Unwohlsein: Sie sei einfach nicht gut genug.

«Da ist also eine Seite in Ihnen, die sagt: Sie sind nicht gut genug. Was passiert in Ihnen, während Sie davon sprechen?», fragt die Therapeutin. Petra schliesst die Augen. «Ich bin traurig», sagt sie. Und nach einer kurzen Pause: «Mir kommen Sätze in den Sinn: Du gehörst da nicht hin, du gehörst nicht dazu.»

«Du gehörst nicht dazu», wiederholt die Therapeutin.

Dann atmet Petra hörbar ein und aus. Sie beschreibt, was in diesem Augenblick mit ihr passiert. Sie erlebt Gefühle, die für den Zuschauer erstaunlich klingen: Sie habe das Gefühl, es ziehe ihr buchstäblich die Schuhe aus. Ihr werde schwindlig, in ihrem Kopf drehe sich alles. Sie verspüre Angst.

In diesem Moment zeigt sich, dass ein Zusammenhang zwischen Petras Angst und ihrem offenbar starken Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit bestehen könnte.

Einige Tage später erzählt Petra, dass sie während dieser Sitzung etwas Wichtiges erfahren habe. Sie habe ein «Wirrwarr an Emotionen» durchlebt. Und am Ende fühlte sie, wie der Druck, unter dem sie stand, nachliess. Sie war erleichtert.

Alte Gefühle werden neu erklärt

«Selbstmitgefühl», sagt Herrmann, «kann eine grosse Stärkung bewirken.» Ein Moment starker Emotionen kann für einen Patienten Entscheidendes verändern. Etwa, wenn lange verborgene Gefühle wieder erlebt und auf eine neue Weise erklärt werden können.

Ben, der junge Mann, der das elterliche Zuhause nicht verlassen konnte, um seine Schule zu besuchen, hat dort inzwischen seinen Meisterabschluss gemacht. Heute arbeitet er als Schreiner und lebt in einer eigenen Wohnung.

Inwieweit Petra ihr Erlebnis während der beobachteten Sitzung helfen wird, ihre Ängste in den Griff zu bekommen, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Ihre Gefühle genau wahrzunehmen, zu akzeptieren und in Worte zu fassen, das sind die Schritte auf diesem Weg.

* Die Namen wurden für den Text geändert.

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