Montag, Januar 20

In den frühen 1920er Jahren war eine Ikone der Berliner Libertinage. Dann wurde die Tänzerin und Schauspielerin zum Opfer ihres Drogenkonsums, wie eine neue Biografie zeigt.

Dieses Bild drückt die Stimmung eines ganzen Jahrzehnts aus: Otto Dix malte 1925 die Tänzerin Anita Berber. Er zeigte sie nicht schmeichelhaft. Die Berber steht in schlangenhafter Haltung im knallengen Kleid wie eine abweisende Ikone da. Knallrot die mörderisch langen Fingernägel und der Stoff, unter dem man Brüste und Bauchnabel ahnt. Rot auch der Hintergrund, der wie ein Höllenfeuer leuchtet. Rot die burschikos in die Stirn fallenden Haare und rot der mephistophelisch gespitzte Mund. Nur das Gesicht ist von einem Leichenweiss, aus dem dunkel geschminkte Augen in eine einsame, leere Ferne blicken.

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Wenn jemand das fatale Tohuwabohu des Berlin der 1920er Jahre verkörperte, dann diese Anita Berber in ihrer prekären Pose. Nach dem Krieg war sie für einige Jahre der unerreichbare Vamp des wilden Berliner Nachtlebens zwischen Tauentzienstrasse und Kurfürstendamm, der unberechenbare Schrecken in noblen Theatern, der bejubelte Star in anrüchigen Kabaretts und Kaschemmen.

Enthemmte Zeiten

Man kannte ihr Gesicht, das sie perfekt mit Arroganz verschattete, und man kannte vor allem ihren knabenhaften Körper, den sie als Nackttänzerin präsentierte, mit dem sie provozierte, bis die Sittenwächter kamen. Anita Berber, schreibt Armin Fuhrer in einer neuen Biografie über die Frau, «war das Gesicht einer turbulenten, enthemmten Zeit, sie schien das Düstere, Hoffnungslose der Inflationsjahre zu repräsentieren wie niemand sonst.» In den 1920er Jahren erwachte das kriegsgebeutelte Land für kurze Zeit und gefiel sich, balancierend am Rand des Vulkans zu tanzen. Die Berber gab den chaotischen, mörderisch wüsten Takt an.

Ob das nun Kunst war, was sie auf die Bühnen in Berlin oder Wien brachte, darüber waren sich Publikum und Kritiker nicht immer einig. Ihre Darbietungen jedenfalls garnierte sie mit klassischer und moderner Musik; die Titel der Stücke ihres Programms «Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase» sprachen eine eindeutige Sprache: «Byzantinischer Peitschentanz», «Kokain», «Haus der Irren», «Die Nacht der Borgia», «Mord, Weib und Gehenkter», «Die Mondsüchtige und der Sträfling», «Die Leiche am Seziertisch» . . . Nichts für schwache Nerven.

Doch während der vergnügungssüchtige Kleinbürger, der gern einmal Stellvertreter seiner Sehnsüchte über die Stränge schlagen liess, sich wollüstig im dargebotenen Sündenpfuhl räkelte, winkten die Kritiker schon früh ab, schrieben von «turnerischen Übungen», von «gähnen statt gruseln», von der Schaustellung der Dame Berber mit dem Drang nach Skandal.

Vielleicht wollte Anita Berber, 1899 in Leipzig in eine Künstlerfamilie hineingeboren, ja wirklich einmal ernsthaft den Tanz revolutionieren. Man entdeckte sie langsam, hielt ihren Hang zur Provokation auch durchaus für erfolgversprechend in den Jahren nach dem Krieg, in denen Deutschland aus seiner Schmach und Lethargie langsam herausfand.

Was hätte da besser sein können, als ein Schlag auf die Pauke, der all die Verzweifelten, Müden und Ausgelaugten lautstark weckt? Der Nackttanz, den die Berber rasch für sich und ihre wechselnden Partner entdeckte, versprach da gleich mehr: Befreiung, Konventionsbruch, Aufruhr gegen Gesetz und Moral. Zwischen «Anmut und Verderbtheit» war viel Raum für verschüttete und verschwiegene Phantasien.

Und wenn so ein Nacktballett etwa in der Berliner Babijou-Bar auftrat, wurde zu den freizügigen Tatsachen auch vorsorglich der theoretische Unterbau mitgeliefert: «Unser wichtigstes Ziel ist es, unserem zerschlagenen Volk das Ideal der Schönheit zu bringen und es aus seiner Misere zu erheben.» Also liessen Berber und ihre Kolleginnen die durchsichtigen Tücher fallen und gaben den noch schwer verstörten Kriegsdeutschen für einen sündigen Abend Kraft und Freude zurück.

Die Berber, der man auch kurz ein paar Chancen im Stummfilm gab (ihr schönes Schmollgesicht machte sich gut in Tragödien), schwamm auf dieser Vergnügungswelle ganz oben und ohne Bedenken. Sie nahm alles mit, was ihr vor allem Berlin bot und was verboten war. Sie eckte bei der Sittenpolizei an, zog sich das Kokain durchs Näschen und gierte nach Morphium; sie residierte im «Adlon», und wenn das Geld einmal nicht mehr reichte, besorgte sie es sich hintenrum: Diebstähle, Unterschlagungen, sie liess sich doppelt und mehrfach buchen und konnte Verträge dann nicht mehr erfüllen. Österreich verwies sie deshalb des Landes, sie nahm es auf ihre zarten Schultern und machte weiter.

Armin Fuhrer zeichnet in «Sextropolis» (Berlin stand einst in diesem Metropolen-Ruf) Berbers Weg nach und nimmt immer wieder Bezug auf die gesellschaftlichen und politischen Zustände, die eine Nischenfreizügigkeit ermöglichten, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann, trotz schranken- und hemmungsloser Internetwirklichkeit. Die Welt seinerzeit war aus den Fugen, die avantgardistische Kunst füllte die Löcher, stachelte die Empörung an – und verschmolz langsam, aber sicher mit dem Mainstream.

Langsame Selbstzerstörung

Irgendwann wirkten die entblössten Brüste und Lenden der Berber eher öde und ihre Ausflüge in erotische Abgründe wie Butterfahrten. Und man sah ihr an, dass das von ihr beschworene Laster auch Spuren hinterliess, unter der Maske zeichnete sich das wahre Grauen ab. «Niemand sagt Anita Berber offenbar, dass sie aufhören soll mit ihrem Drogenkonsum», schreibt Armin Fuhrer, «im Gegenteil, sie erhält Applaus auf ihrem Weg in die Selbstzerstörung. Der spätere körperliche Verfall deutet sich an . . .»

Das war schon 1922 spürbar, das Jahrzehnt war noch jung und sollte bis zum martialischen Auftritt der Nationalsozialisten noch manch eine Möglichkeit bieten, «als Glanz» (so Irmgard Keun) in Erscheinung zu treten. Doch für die Berber war es da schon zu spät. Pleite war sie, auch in der Provinz wollte sie niemand mehr sehen, weder nackt noch androgyn in Frack und mit Monokel.

Sie starb verglüht 1928 im Krankenhaus, noch keine 30 Jahre alt. Ihr Freund und Biograf Leo Lania sah sie dort in ihrer Agonie: «Sie lachte und versuchte, sich einen Mund in ihr Gesicht zu malen. Ihre Hände zitterten, und es kostete sie eine schreckliche Anstrengung. Sie sah aus, als habe sie eine Maske wie eine alte Hexe.»

Armin Fuhrer: Sextropolis. Anita Berber und das wilde Berlin der Zwanzigerjahre. Bebra-Verlag 2024. 304 S., Fr. 37.90.

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