Neugier – die musikalische Geschichte eines Menschheitsgefühls. Ein Essay von Michael Stallknecht.

Zehn Jahre voller Irrfahrten brauchte Odysseus, um nach dem Trojanischen Krieg zu seiner Gattin Penelope zurückzufinden. Wie es mit dem griechischen Helden danach weiterging, lässt sich in Dantes «Göttlicher Komödie» nachlesen: Nicht lange hält es ihn bei seiner Familie und in der Heimat Ithaka. Mit den alten Gefährten besteigt er vielmehr erneut das Schiff für eine weitere, letzte Irrfahrt, «a divenir del mondo esperto / e de li vizi umani e del valore» – frei übersetzt: «um die Welt zu erkunden und die menschlichen Schwächen wie Fähigkeiten». Bereits gealtert, so berichtet es Odysseus selbst im 26. Gesang des «Inferno», durchquert man die «Säulen des Herkules» in der Meerenge von Gibraltar – und überschreitet so die Grenzen der damals bekannten Welt. Doch als das Schiff auf den Berg zuhält, auf dem einst Adam und Eva im Paradies gelebt hatten, gerät es in einen Strudel und sinkt.

Dante selbst starb im Jahr 1321, kurz nach Vollendung der «Divina commedia». Nur ein Jahr später erschien ein lateinisches Traktat, das bis heute vielfach dem französischen Komponisten Philippe de Vitry zugeschrieben wird: über die «Ars nova», die «Neue Kunst». An der Oberfläche geht es darin um eine Frage, die uns heute marginal erscheinen mag: ob man eine lange Note nur in drei oder auch in zwei Zeiteinheiten teilen darf. Doch für die Menschen der Epoche ging es ums Ganze. Schliesslich repräsentierte die Drei die Trinität, die göttliche Dreieinigkeit, und galt damit als «perfekt», die Zwei hingegen als imperfekt.

Die neue, «imperfekte» Musik veranlasste konservative Theoretiker zu Gegentraktaten und liess sogar den Papst wettern. In der Bulle «Docta sanctorum patrum» von 1324/25 forderte Johannes XXII. die Rückkehr zur alten Einstimmigkeit des gregorianischen Chorals, der allenfalls von einer zweiten, parallel geführten Stimme begleitet werden sollte. Doch die Möglichkeiten der Neuen Kunst waren zu verführerisch: Brachte sie doch eine deutlich grössere Unabhängigkeit der Stimmen mit sich. Bald schon erfreuten sich auch Kirchenfürsten an der neuen Vielstimmigkeit: Zur Papstwahl von Clemens VI. im Jahr 1342 komponierte Philippe de Vitry die Motette «Petre Clemens – Lugentium siccentur». Die Ars nova war zum «state of the art» geworden, während der Ars antiqua, der «Alten Kunst», schon im damaligen Sprachgebrauch anhaftete, was wir heute mit dem Begriff «antiquiert» verbinden.

Alt und neu

Spätestens seit dieser Zeit ist die Geschichte der europäischen Kunstmusik auch eine der Neugier. Und der vergeblichen Versuche, vor den Gefahren des Neuen zu warnen. Dabei löst das Neue das Alte fast nie revolutionär ab, vielmehr verschiebt sich der Geschmack über Jahre, manchmal Jahrzehnte. Schon Philippe de Vitry beziehungsweise der anonyme Verfasser des Traktats hatte betont, dass er die «Neue Kunst» selbst eher als Fortschreibung der älteren verstehe. Weshalb er Letztere auch nicht abwertend die «Ars antiqua», sondern, neutraler, die «Ars vetus» nennt. Den allzu offenen Bruch verhinderte dabei über die längste Zeit ein relativ stabiles Wechselspiel: das zwischen etablierten Formen und ihrer neuen Ausgestaltung. Neue Formen entstanden relativ selten, neue Musik dafür ständig. Ältere wurden dabei in der Regel vergessen, blieben aber als Vorbild für nachfolgende Komponisten lebendig.

Dieses Wechselspiel ereignet sich nicht zuletzt in den Formen selbst: Musikalisches Material wird in der Regel mehrfach wiederholt, aber auch auf neue, unerwartete Weise fortgeführt. Der Sonatenhauptsatz ist ein Paradebeispiel dafür: Was in der Exposition etabliert wird, gerät in der Durchführung in einen Strudel, um in der Reprise erneut bekräftigt zu werden. Zusammengehalten wird die Form dabei massgeblich vom Dur-Moll-tonalen System, das seine eigenen Schwergewichte erzeugt, vorübergehende wie dauerhafte. Mögen die harmonischen Wogen noch so hoch über dem Schiff zusammenschlagen, am Ende wird es absehbar in der Tonika ankern.

«Es klang so alt und war doch so neu», sinniert Hans Sachs in den «Meistersingern von Nürnberg», nachdem ihn ein junger Sänger neugierig gemacht hat: In Richard Wagners Oper, uraufgeführt 1868, ist der impulsive Walther von Stolzing in den Kreis der Meistersinger eingebrochen. Während für sie ein neues Lied immer den alten Formen und Regeln folgen muss, geht es Walther darum, den eigenen Gefühlen Ausdruck zu geben. In einem langen Prozess der Annäherung lernen dabei beide Seiten voneinander. «Wie fang’ ich nach der Regel an?», fragt Walter schliesslich Sachs. Die Antwort: «Ihr stellt sie selbst, und folgt ihr dann.» Darin ist eingefangen, was eine ganze Epoche der Musik umtrieb: dass das Wechselspiel zwischen den alten Formen und ihrer jeweils neuen Ausgestaltung erodiert war.

Das Neue ist zum Marketingvorteil ­geworden, der – wie jeder Markt – die Gier beschleunigt.

Eine Sinfonie, ein Konzert, erst recht eine Oper zu schreiben wurde für Komponisten mit innovativem Talent zunehmend zum Drahtseilakt. An die Stelle des alten Wechselspiels trat ein neues, wenn auch instabileres: das zwischen der Neugier der Komponisten und der Neugier der Öffentlichkeit. Wagner selbst ist dafür das beste Beispiel: Gerade weil er als Revolutionär galt, wurde jedem seiner Werke begierig entgegengefiebert, von Anhängern wie Gegnern gleichermassen. Das Neue war zum Marketingvorteil auf dem bürgerlichen Musikmarkt geworden, der, wie jeder Markt, die Gier beschleunigte.

Damit war die Basis für die Kunstmusik des 20. Jahrhunderts geschaffen, indem die Neugier schliesslich alle Parameter des Komponierens ergreifen sollte. Im harmonischen Raum experimentieren Komponisten nun mit zuvor ungebräuchlichen Skalen oder der Überlagerung mehrerer Tonarten. Einzelne Parameter wie der Rhythmus oder die Klangfarbe emanzipieren sich und werden jeweils für sich ausgiebig erkundet. Live erzeugte Klänge werden durch elektronische erweitert, der Tonvorrat aus wohltemperierter Stimmung durch Mikrotöne, die tradierten Spieltechniken auf Instrumenten durch zuvor unvorstellbare.

Doch dabei ist der Neugier auch ein Schatten zugewachsen, der sich ebenfalls schon im 19. Jahrhundert abgezeichnet hatte: Man könnte ihn analog als Altgier bezeichnen. Je mehr lebende Komponisten mit den Formen rangen, desto mehr fand ihre Ausgestaltung durch längst tote Komponisten Eingang in Konzertsäle. Auch diese Entwicklung explodiert im 20. Jahrhundert, unterstützt durch die Entwicklung der Aufzeichnung von Klängen. Je häufiger einzelne Werke dabei bereits auf Tonträgern festgehalten sind, desto neugieriger beziehungsweise altgieriger erkundeten Interpreten auch noch älteres Terrain. Zumal die historisch informierte Aufführungspraxis schon länger verspricht, ältere Werke wie neu klingen zu lassen. Und so lassen sich auch die Kompositionen der Ars nova, sogar der Ars antiqua inzwischen problemlos in vielerlei Einspielungen abrufen.

Systemsprenger

Es war der kämpferische Begriff der «Neuen Musik», der dem Neuen in der Komposition zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch einmal dieselbe Emphase verlieh wie einst der Ars nova. Er etablierte sich nicht umsonst zur selben Zeit, als die Neugier über eine entscheidende Grenze hinausdrängte: den Verzicht auf das tonale System. Dass Letzteres auf einen Engpass zusteuerte, war dabei vielen längst bewusst geworden. Entscheidender war auch diesmal die Geste, mit der der Weg in die Atonalität vollzogen wurde, vor allem von Arnold Schönberg, dessen 150. Geburtstag die Musikwelt in diesem Jahr feiert.

Seitdem, könnte man sagen, hat die Geschichte der Neukomposition die Säulen des Herkules passiert. Dass sich das Schiff damit auf hoher See wiederfand, wurde Schönberg selbst rasch bewusst. Um ihm einen Anker zu geben und die Taue zu sichern, schuf er die Zwölftonmethode, die an die Stelle der Dur-Moll-tonalen Bindungen treten sollte. Doch sie erwies sich als nicht stark genug, um den Kurs dauerhaft zu sichern; ebenso wenig ihre verschärfte Variante, der Serialismus der Nachkriegszeit, in dem Schönbergs Reihentechnik auf alle musikalischen Parameter ausgeweitet wurde. Er hatte obendrein den Nachteil, dass sich von ihm viele Bootsinsassen allzu eingeengt fühlten.

Seitdem ist die Frage für Komponisten – Komponistinnen zunehmend eingeschlossen – stets dieselbe geblieben: «Wie fang’ ich nach der Regel an?» Die Antwort lautet freilich immer noch und mehr denn je: «Ihr stellt sie selbst …» Dabei gelingt es immer wieder Einzelnen, kraftvolle Strömungen zu erzeugen, die andere mitziehen. Darunter auch solche, die mit neuen Formen der Tonalität experimentieren. Dies sollte man freilich nicht mit dem Versuch verwechseln, einfach wieder vor die Säulen des Herkules zurückzusegeln. Denn das Schiff blieb stets von mehreren Strömungen gleichzeitig erfasst.

Der Lotse geht von Bord

Dass sich über den richtigen Kurs nicht unbedingt Einigkeit erzielen lässt, wird inzwischen gelassen akzeptiert. Es spiegelt sich im Stilpluralismus wider, der bei Festivals für zeitgenössische Musik zu erleben ist, deutet aber auch auf eine gewisse Erschöpfung hin. Der Begriff einer Neuen Musik wird, wenn überhaupt, inzwischen längst nicht mehr mit derselben Emphase verwendet. Nicht nur, weil sich ihr eine Alte Musik mit ebenso grossem A beigesellt hat; sondern auch, weil die Neugier auf ein Teilpublikum beschränkt bleibt. Die Gefährten des Odysseus sind älter geworden. Streaming-Portale vereinen Musiken aller Zeiten ohnehin zu einem einzigen Strom, in dem die Neugier auf das Allerneueste, jüngst Geschaffene nur von eine von vielen ist.

Viele Neue-Musik-Festivals stellen klassische ­Autorenmodelle ­zunehmend in Frage.

Zu streiten scheint man momentan allenfalls darüber, ob es überhaupt eines Lotsen an Bord bedarf. Viele Neue-Musik-Festivals stellen klassische Autorenmodelle zunehmend in Frage, häufig treten partizipative oder von Teams entwickelte Formen an ihre Stelle. Vielleicht braucht es am Ende nicht einmal mehr ein Schiff. Darauf deuten jedenfalls Entwicklungen hin, die Musik vermehrt ausserhalb von Konzertsälen stattfinden zu lassen, sie nur als einen performativen Aspekt unter vielen zu begreifen und auf Vorstellungen von einem abgeschlossenen Werk ganz zu verzichten.

Vor dreissig Jahren komponierte Helmut Lachenmann, den man definitiv zu den Lotsen an Bord unseres imaginären Schiffes rechnen darf, ein Melodram für Sprecher und Instrumentalensemble. Es trägt den Titel «…  zwei Gefühle … – Musik mit Leonardo». Zugrunde liegen ihm Texte von Leonardo da Vinci, in denen dieser ähnliche Naturmetaphern von stürmischem Meer und Wind verwendete wie zweihundert Jahre zuvor Dante in der Begegnung mit Odysseus. «Doch ich irre umher, getrieben von meiner brennenden Begierde, das grosse Durcheinander der verschiedenen und seltsamen Formen wahrzunehmen, die die sinnreiche Natur hervorgebracht hat.» Am Ende landet das lyrische Ich in einer dunklen Höhle, erfüllt von zwei Gefühlen: Furcht und Verlangen. Es sind die beiden Säulen des Herkules, zwischen denen die Neugier schon immer manövriert hat.

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