Die türkische Justiz hat in den vergangenen Wochen zahlreiche Verfahren mit politischem Hintergrund eröffnet. Besonders im Visier steht Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu. Der populäre Oppositionspolitiker will bei den nächsten Wahlen gegen Präsident Erdogan antreten.

Nun also auch noch das Uni-Diplom: Die türkische Staatsanwaltschaft hat kürzlich Ermittlungen eingeleitet, weil der Oberbürgermeister von Istanbul Ekrem Imamoglu seinen Abschluss in Betriebswirtschaft unrechtmässig erworben haben soll.

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Konkret geht es um die Anerkennung von Leistungen beim Wechsel von einer Hochschule zur anderen. Der Oppositionspolitiker hatte sein Studium in den späten achtziger Jahren im türkischen Teil Zyperns begonnen und schloss es später in Istanbul ab.

Mehrere Prozesse gegen Imamoglu

Die Ermittlungen zu Imamoglus Studienzeit sind nur das jüngste Kapitel einer ganzen Reihe juristischer Verfahren, die gegen den Bürgermeister der grössten und wichtigsten Stadt des Landes laufen. Nach der Verhaftung des Chefs der Jugendsektion seiner Partei sagte Imamoglu sinngemäss, dass er die Mentalität ausmerzen wolle, die solche Verfahren ermöglichten. Dies wurde ihm als Drohung gegen den ermittelnden Staatsanwalt ausgelegt. Das Anfang Februar eröffnete Verfahren könnte mit mehreren Jahren Haft und einem politischen Betätigungsverbot für ihn enden.

In einem anderen, seit mehr als zwei Jahren laufenden Prozess wurde Imamoglu erstinstanzlich bereits zu einer Haftstrafe und einem Politikverbot verurteilt. Der damalige Innenminister hatte Imamoglu einen Idioten genannt, weil dieser die Annullierung der Lokalwahlen in Istanbul 2019 vor dem Europarat kritisiert hatte. Imamoglu entgegnete, Idioten seien doch eher jene, die für den Entscheid verantwortlich seien. Das Urteil wegen Beamtenbeleidigung ist noch nicht rechtskräftig.

Ausserdem läuft gegen Imamoglu ein Verfahren wegen Beeinflussung der Justiz, und Mitarbeiter aus seinem Team sind wegen illegaler Parteispenden angeklagt. Die Staatsanwaltschaft stützt sich dabei auf Videoaufnahmen aus der Zentrale von Imamoglus Partei, auf denen Menschen beim Geldzählen zu sehen sind. Der Istanbuler Bürgermeister hat so viele Prozesse am Laufen, dass er an manchen Tagen in gleich zwei Verfahren aussagen muss.

Opposition kürt Erdogans Herausforderer

In der politisierten Justiz der Türkei ist eine solche Häufung schwerlich ein Zufall. Imamoglu ist einer der populärsten Oppositionspolitiker des Landes und gilt als potenzieller Herausforderer von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Bald könnte er diesen Status auch offiziell erhalten. Imamoglus Partei, die kemalistische CHP, will Ende März per Mitgliederbefragung den Kandidaten für die nächste Präsidentschaftswahl nominieren. Einziger Name auf der Liste ist Ekrem Imamoglu.

Die nächsten Wahlen in der Türkei finden regulär zwar erst 2028 statt. Die grösste Oppositionspartei erhofft sich aber von der frühzeitigen Festlegung einen gewissen Schutz vor einer innerparteilichen Spaltung, die von der Regierung nach Kräften gefördert wird. Neben Imamoglu gibt es in der CHP noch eine zweite sehr populäre Figur, Ankaras Bürgermeister Mansur Yavas. Beide erzielen in Umfragen mitunter höhere Popularitätswerte als Erdogan.

Der türkische Präsident hat immer wieder versucht, einen Keil zwischen dem eher links politisierenden Imamoglu und dem im nationalistischen Milieu beheimateten Yavas zu treiben, nicht zuletzt durch die Kurdenfrage. Gelungen ist das aber nicht. Yavas unterstützt Imamoglus Kandidatur. «Erdogans Kalkül ist nicht aufgegangen», sagt der Istanbuler Politikwissenschafter Berk Esen. «Die Ballung juristischer Angriffe steht in diesem Zusammenhang.»

Verhaftungen und Strafverfahren im Wochentakt

Die Regierung zieht nicht nur gegenüber der CHP die Daumenschrauben an. Wöchentlich gibt es Meldungen von Verhaftungen und neuen Strafverfahren gegen zivilgesellschaftliche Kritiker und politische Gegner der Regierung.

Unter anderem wurde Ende Januar die in der Filmszene sehr bekannte Talentmanagerin Ayse Barim wegen ihrer Rolle in den zwölf Jahre zurückliegenden Gezi-Protesten verhaftet. Mehrere prominente Schauspieler wurden für Verhöre vorgeladen. Eine Woche davor war der Chef der ultranationalistischen Siegespartei Ümit Özdag wegen Präsidentenbeleidigung festgenommen worden.

Zudem bleibt der Druck auf die Kurden unvermindert hoch. Allein am 18. Februar wurden 282 Personen wegen Verbindungen zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorübergehend festgenommen. Auch die Absetzung kurdischer Lokalpolitiker geht weiter. In der stark kurdisch geprägten Grossstadt Van in Ostanatolien etwa wurde Mitte des Monats der Bürgermeister verhaftet. Als Treuhänder wurde der von der Regierung ernannte Provinzgouverneur eingesetzt. Dasselbe geschah in der vergangenen Woche in der Provinzstadt Kagizman bei Kars.

Dünnhäutige Reaktion auf Kritik

«Erdogan versucht seine Gegner einzuschüchtern, damit niemand wagt, auf die Strasse zu gehen – zum Beispiel, falls Imamoglu tatsächlich mit einem Politikverbot belegt wird», sagt der Politikwissenschafter Esen. Deshalb würden plötzlich wieder die Gezi-Proteste aufgerollt.

Tatsächlich reagiert die Regierung dünnhäutig auf Kritik an ihrem Vorgehen. Vergangene Woche wurde ein Verfahren gegen zwei hochrangige Vertreter der Industriellenvereinigung Tüsiad eingeleitet. Die Geschäftsleute hatten bei der Generalversammlung ihres Verbandes angemerkt, dass die vielen Verhaftungen in einem gewissen Widerspruch zu den juristisch nicht ausreichend aufgearbeiteten Missständen im Zusammenhang mit Erdbeben, Bränden oder der hohen Zahl an Frauenmorden in der Türkei stünden.

Auch nach einem Artikel des «Economist», der sich mit der jüngsten Repressionswelle befasst, sah sich Erdogans Kommunikationschef zu einer scharfen Replik auf X veranlasst.

Das Vorgehen gegen die Kurden wiederum steht im Zusammenhang mit dem Dialogprozess, den Erdogans ultranationalistischem Koalitionspartner Devlet Bahceli im Herbst angestossen hat. Dabei hat die Regierung neben dem Zuckerbrot immer auch auf die Peitsche gesetzt.

Ob die Verhaftungen und Absetzungen kurdischer Politiker nach dem spektakulären Aufruf von Abdullah Öcalan nachlassen, wird sich zeigen müssen. Erwartungen bestehen diesbezüglich in der kurdischen Bewegung zweifellos. Der Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), hat am Donnerstag in einem historischen Schritt seine Organisation aufgerufen, die Waffen niederzulegen und sich aufzulösen.

Etappenziel Verfassungsreform

Viele Beobachter sehen Bahcelis Vorstoss primär als Manöver, um kurdische Stimmen für die Verfassungsreform zu gewinnen. Nach geltendem Gesetz ist die Präsidentschaft auf zwei Amtszeiten beschränkt. Um auch über 2028 im Amt bleiben zu können, muss der Präsident die Verfassung ändern. Für die hierfür notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit reichen die Stimmen seiner Koalition nicht aus.

Auch unabhängig von der Kurdenfrage versucht das Regierungslager, seine Machtbasis auszuweiten. Mehrere Oppositionspolitiker haben sich in den vergangenen Monaten Erdogans AKP angeschlossen. Sieben von ihnen wurde kürzlich sogar in den Parteivorstand ernannt. Die grösste Aufmerksamkeit erregte dabei die renommierte – und einst der Regierung gegenüber sehr kritisch eingestellte – Verfassungsrechtlerin Serap Yazici. Auch dies dürfte im Zusammenhang mit der anvisierten Verfassungsreform stehen.

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