Freitag, August 22

Die 1986 in Moskau geborene Schriftstellerin Anna Prizkau ist mit sieben Jahren nach Deutschland gekommen und hat gerade ihren Debütroman veröffentlicht. Im Gespräch erzählt sie von ihren Erfahrungen als Kriegsreporterin in der Ukraine und erklärt, warum sie nie einen politischen Roman schreiben würde.

Frau Prizkau, in Ihrem Debütroman erzählen Sie Geschichten von Liebe und Hass, Lügen und Wahrheiten am Beispiel von drei einander zugetanen Frauen und gelegentlich auch ein paar Männern, die zur Triebabfuhr gebraucht werden – alles Insassen einer Irrenanstalt. Ruhe und Klarheit scheint es nur in Selbstgesprächen mit dem Pink Flamingo zu geben. Ist das ein Spiegelbild der Gesellschaft, in der wir leben?

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Ich persönlich habe nicht einmal in Selbstgesprächen Ruhe und Momente von Klarheit. Im Ernst und ganz ehrlich: Ich wollte einfach nur eine Geschichte erzählen, die einen Anfang hat, ein wenig Handlung und ein Ende. Und ja, vielleicht sieht man in meinem Buch etwas von unserer schönen, todunglücklichen Wohlstandsgesellschaft. Und vielleicht hört man auch das heranziehende Grollen einer neuen dunklen Zukunft, die uns leider bevorsteht. Doch das liegt nur daran, dass ich ständig Menschen beobachte. Und was ich sehe – immerzu, überall –, sind Menschen, die das Glück suchen, ohne es wirklich finden zu wollen. Was am Ende wunderschön ist, traurig, verständlich, also einfach tief menschlich. Aber in meinem Roman wollte ich wirklich nichts spiegeln und erst recht nichts Gesellschaftliches oder Politisches sagen.

Warum? Kann man denn keine gute Literatur schreiben, wenn man eine politische Agenda hat?

Nein, und das aus zwei Gründen. Erstens macht das gar keinen Sinn, denn wer eine Agenda hat, will etwas verändern. Aber Literatur, selbst die grösste, selbst die allergrösste, kann die Welt nicht verändern. Sie kann im besten Fall Erfahrungen, die wir alle kennen, in Worte und Sätze fassen, die uns vorher fehlten, sie kann uns Vertrautes neu zeigen. Und sie kann überleben – Zensur, Diktaturen und Unterdrückung. Das sollte doch einem Schriftsteller reichen!

Und der zweite Grund?

Ich kenne keinen einzigen gelungenen Roman, der einer politischen Agenda folgt. Denn wenn man ein Aktivist ist, dann glaubt man zu wissen, wer gut ist und wer böse. Doch das hat nichts zu tun mit der Wirklichkeit, nichts mit dem Leben. Und wie langweilig ist das denn bitte, wenn die Guten nur gut sind, die Bösen nur böse?

Die Protagonistin Ihres Romans ist oft böse. Sie heisst Anna und hat einen osteuropäischen Hintergrund, lebt aber schon lange in Deutschland und ist Kettenraucherin – so wie Sie. Haben wir es bei dem Werk mit einem in weiten Teilen autobiografischen Roman zu tun?

Nein, nein! Aber ja, es fällt mir schon leichter, Dinge zu beschreiben, die ich selbst kenne: rauchen, trinken, lügen, Sex haben, lieben. Und trotzdem schreiben Schriftsteller, zumindest die, die ich schätze und lese, nie darüber, was sie selbst erlebt haben. Sie schreiben darüber, was sie erleben wollen, oder darüber, wovor sie sich fürchten, dass sie es erleben. Dostojewski hat doch auch niemals getötet, obwohl er das vielleicht gelegentlich gewollt hätte.

In welcher literarischen Blütezeit hätten Sie gern gelebt? Expressionismus? Neue Sachlichkeit? Nachkriegszeit?

Im Realismus, natürlich! Klare Sprache, wenig Moral und noch ein bisschen Napoleon in der Erinnerung. Und immer kommt eine Kutsche viel zu spät, um einen wichtigen Brief zu übergeben, so dass die grosse Katastrophe beginnen kann. Etwas Besseres gibt es für einen Schriftsteller doch überhaupt nicht.

In Ihrem Buch taucht zwar keine Kutsche auf, aber ein Bus mit offensichtlich behandlungsbedürftigen, verrohten Soldaten. Flossen da Ihre Erfahrungen als Kriegsreporterin in der Ukraine für eine grosse deutsche Zeitung mit ein?

Nein. In meinem Roman geht es um deutsche Soldaten. Ich kenne einige. Schöne, mutige, kluge Soldaten. Ich habe volles Vertrauen in sie und schätze sie und ihre Arbeit. Dennoch leben diese Frauen und Männer trotz allen Auslandseinsätzen in einem sicheren Alltag, in Deutschland. Das ist etwas, was sie von den Soldaten, die ich in der Ukraine getroffen habe, auf ewig trennt. Ich meine die tagtägliche Erfahrung des Todes. Das ist nichts Literarisches, daran ist nichts poetisch. Sie trennt mich auch von meinen ukrainischen Freunden, die nicht kämpfen. Von den Zivilisten. Obwohl auch sie tagtäglich kämpfen. Denn seit dem Überfall Russlands ist jeder Tag für jeden in der Ukraine am Ende ein Kampf. Und Sie, jeder Leser und auch ich selbst werden den Schmerz der Menschen dort niemals begreifen, fühlen und verstehen. Weil Schmerzerfahrungen sich nicht, niemals in Worte fassen lassen.

Wie hat Sie die hautnahe Konfrontation mit dem Kriegsgeschehen in der Ukraine geprägt?

Entscheidend. Denn Krieg ist etwas, was man – sogar als Reporter – vollkommen, gross, körperlich fühlt. Sie selbst haben doch wahrscheinlich in den Nachrichten schon oft die Häuserruinen in Charkiw, in Cherson oder Kiew gesehen, nicht wahr?

Ja, natürlich.

Gut, und ich muss Ihnen sagen, das Fernsehen, diese Videos, die Bilder haben kaum etwas mit der Wirklichkeit zu tun. Wenn man selbst dort steht, also vor so einer gewaltigen Ruine, nach einem Bombardement, nach einem Beschuss, dann ist da etwas, was man nicht durch ein Foto, durch ein Video verstehen kann. Weil es dort dampft. Es riecht nach kaputter Kanalisation, riecht nach Blut.

Welche Spuren hat das hinterlassen?

In mir? Darauf kann ich nur Witali Klitschko zitieren, mein grosses Idol beim Boxen. Ich hatte ihn vor zwei oder drei Jahren einmal in Kiew interviewt, und er sagte mir da auf die Frage, wie es ihm gehe, ungefähr das: Hast du zwei Beine? Hast du zwei Arme? Dann geht es dir gut! Das war das Klügste, was mir ein Boxer oder Bürgermeister jemals erzählt hat. Deshalb sage ich Ihnen jetzt auch: Was denn für Spuren? Mir geht es gut!

Bald gehen Sie auf Lesereise durch Deutschland. Glauben Sie, bei Ihren Auftritten werden Frauen in der Überzahl sein, so wie insgesamt unter Literaturinteressierten?

Natürlich. Wahrscheinlich. Und das ist doch toll. Ich liebe Frauen!

Haben es Frauen leichter im literarischen Leben als Männer?

Ich glaube, in unserer, dieser Zeit schon. Früher war es selbstverständlich ganz anders. Ich verehre zum Beispiel Joyce Carol Oates, Carson McCullers, Irmgard Keun, Maeve Brennan, das waren geniale, grosse Frauen der Literatur, die im Vergleich zu ihren männlichen Zeitgenossen, also Hunter S. Thompson, Ernest Hemingway, Stefan Zweig, Truman Capote, in der Allgemeinbildung, im literarischen Namedropping kaum existieren. Aber was unsere Zeit, was das Jetzt betrifft, hat sich alles zum Glück gedreht.

Sind Sie etwa woke?

Ich weiss nicht, was woke bedeutet. Ich weiss nur: Ich liebe die deutsche Sprache. Ich bin mit sieben Jahren nach Deutschland gezogen – ohne ein deutsches Wort in meinem Kopf. Ich lernte Deutsch erst durchs Beobachten. Ich sah den Menschen zu, die für mich damals die Fremden waren, und ich verstand sie nach und nach, und ich verliebte mich in ihre Sprache. Aber Sternchen und Doppelpunkte, die jetzt oft zwischen den Silben hängen, bleiben mir fremd. Ich kann sie weder sehen noch fühlen. Ich sehe einfach Menschen.

Welchem deutschsprachigen Schriftsteller, wären Sie in Ihrem Sanatorium eingesperrt, würden Sie ungern begegnen?

Wenn Sie von Toten sprechen, dann: Joseph Roth. Denn Roth hat sogar für mein ausgedachtes Sanatorium, sogar für mich ganz persönlich zu viel getrunken. Seine Gesellschaft wäre nicht gut für meine Gesundheit.

Was dürfen wir als Nächstes von Ihnen erwarten?

Ich werde schreiben. Alle sagen, das zweite Buch sei das schwierigste. Ich glaube aber, es ist das dritte. Denn dabei denke ich immer an den grossen deutschen Verleger Siegfried Unseld. Er meinte, erst mit dem dritten Buch werde man ein Schriftsteller. Das macht mir Angst. Aber ich habe irgendwann irgendwo einmal gehört: Wenn man in Angst lebt, stirbt man in Scham. Und das will ich nicht.

Anna Prizkau: Frauen im Sanatorium. Roman. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2025. 304 S., Fr. 34.90.

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