Donnerstag, Dezember 5

Neuenburg nimmt die «digitale Unversehrtheit» in die Verfassung auf, weitere Kantone könnten folgen. Der Nationalrat hatte einen Vorstoss als reine Symbolik kritisiert. Doch in Genf sind Folgen sichtbar.

Beim ersten Mal könne man es noch als Unfall abtun, beim zweiten Mal nicht mehr: Das sagt Alexis Roussel, die treibende Kraft hinter einem Grundrecht auf digitale Unversehrtheit. Roussel, Mitglied der Piratenpartei und einst deren Präsident, ist bester Dinge. Denn nach Genf im Jahr 2023 hat am 24. November auch sein Heimatkanton Neuenburg das neue Grundrecht in der Verfassung verankert. Beide Male stimmte das Volk äusserst deutlich Ja: mit 94 Prozent in Genf und knapp 92 Prozent in Neuenburg.

Ab der neuen Legislatur 2025 garantiert die Neuenburger Verfassung somit nicht nur das Recht auf körperliche, geistige und psychische, sondern auch dasjenige auf digitale Unversehrtheit. Das neue Recht gilt nur im Verhältnis zum Staat. Es beinhaltet etwa das Recht auf Sicherheit im digitalen Raum, das Recht, «nicht überwacht, vermessen und analysiert zu werden», das Recht auf ein «Offline-Leben» sowie das Recht auf Vergessen.

Nationalrat kritisiert Lücke bei Social Media

Dabei hatte der Nationalrat 2023 das Recht auf digitale Unversehrtheit wuchtig abgelehnt. 118 Parlamentarier stimmten gegen einen Vorstoss des Waadtländer Sozialdemokraten Samuel Bendahan, nur 65 dafür. Die Mehrheit sah in dem Vorstoss vor allem Symbolik, weil das Recht nicht gegenüber privaten Akteuren wie amerikanischen Social-Media-Konzernen gilt. Die vorberatende Kommission hatte zudem knapp entschieden, dass die bestehenden Grundrechte und der Datenschutz ausreichten.

Die Bürger selbst sähen das anders, glaubt Alexis Roussel. Er verweist auf die deutlichen Erfolge in Genf und Neuenburg und auf Gespräche mit Passanten in Zürich, wo er mit der Piratenpartei für eine ähnliche Volksinitiative genügend Unterschriften sammelte. In Zürich, sagt Roussel, hätten sich die Leute häufig über den Zwang zur Nutzung digitaler Dienstleistungen beschwert und zugleich den Verlust bewährter analoger Angebote bedauert.

Auch im Jura, in der Waadt und in Basel-Stadt sind parlamentarische Vorstösse für die Einführung des Grundrechts hängig. Im Kanton Freiburg steht dies als Ziel im laufenden Regierungsprogramm bis 2026. Für Roussel kann man das Thema deshalb nicht mehr als «Spinnerei» einzelner Leute abtun. Er erwarte nun vom Bundesrat, der vom Nationalrat einen entsprechenden Auftrag hat, einen «ernsthaften» Bericht zur digitalen Unversehrtheit.

Die Romandie ist auf einem guten Weg, Pionierin eines neuen Grundrechts zu werden – in der Schweiz und weltweit. Es gebe zwar an verschiedenen Orten Bestrebungen, entsprechende digitale Rechte zu schaffen, sagt der Netzaktivist Georg Greve. Teilweise laufe das unter Begriffen wie «digitale Souveränität» oder «digitale Menschenrechte», die auch Greve nutzt. Doch nach seiner Kenntnis wurden solche Rechte noch nirgendwo sonst im Gesetz festgeschrieben.

Von der SVP bis zur Partei der Arbeit waren fast alle dafür

Für ein Recht auf digitale Unversehrtheit kann man aus jeder politischen Warte argumentieren. Das zeigten exemplarisch die parlamentarischen Unterstützer der Initiative in Neuenburg, zu denen Vertreter von der Partei der Arbeit bis zur SVP gehörten. Nur die FDP war nicht dabei, wie die SP-Initiantin Anne Bramaud du Boucheron an einer Medienkonferenz im November neckisch betonte. Dabei hatten die Liberalen in Genf sogar die dortige Verfassungsänderung angestossen.

Die SP-Vertreterin argumentierte ganz grundsätzlich für die digitale Unversehrtheit. Viele Bürger verstünden nicht, was mit ihren Daten geschehe. Das neue Grundrecht solle dafür sorgen, dass der Staat mehr Transparenz und damit Vertrauen schaffe, sagte Bramaud du Boucheron. Der Staat solle nicht nur persönliche Daten besser schützen, sondern vor allem das dahinterstehende Individuum.

Der Grünliberale Samuel Colin erinnerte daran, dass ein Viertel der Bevölkerung laut dem Bundesamt für Statistik nur eine schwache oder gar keine Digitalkompetenz hat. «All diesen Leuten droht, abgehängt zu werden.» Darauf gebe es drei mögliche politische Antworten.

Erstens könne man auf reine Eigenverantwortung setzen, was für Colin «menschlich inakzeptabel und gesellschaftlich unerwünscht» ist. Zweitens könne man die Omnipräsenz des Digitalen reduzieren, indem der Staat etwa gewisse Dienstleistungen weiterhin an Schaltern anbiete. Drittens könne man die digitale Inklusion vorantreiben, was Colin zum Beispiel mit der Unterstützung von Senioren im Umgang mit Smartphones erreichen will.

Der SVP-Vertreter Daniel Berger wiederum argumentierte mit der Sicherheit, die generell ein zentrales Thema für seine Partei sei. Persönliche Daten, die Privatsphäre und die IT-Infrastruktur des Staates müssten besser geschützt werden, sagte Berger, der auch in der IT-Sicherheit arbeitet. Dazu sollten etwa Daten in der Schweiz gespeichert und IT-Personal besser kontrolliert werden, weil Datenmissbrauch häufig auf Insider zurückgehe.

Digitalministerin warnt vor hohen Erwartungen

Gegen ein Recht auf digitale Unversehrtheit sprechen grundsätzliche Bedenken. In Neuenburg hielt ausgerechnet die Digitalministerin Crystel Graf von der FDP dagegen. Sie argumentierte, ähnlich wie der Nationalrat, dass ein solches Grundrecht wegen der fehlenden Gültigkeit gegenüber privaten Datenverarbeitern vor allem Symbolik sei und «unverhältnismässige Erwartungen» schaffe.

Skeptisch ist auch der emeritierte Staatsrechtler Pascal Mahon von der Universität Neuenburg. Er organisierte 2021 auf Betreiben von Alexis Roussel das erste wissenschaftliche Kolloquium zum Thema. Mahon denkt, dass Verletzungen der digitalen Unversehrtheit letztlich Verletzungen der körperlichen oder mentalen Unversehrtheit seien. Und diese sind bereits durch die Schweizer Verfassung verboten.

Zugleich begrüsst Mahon, dass das neue Grundrecht einen Fokus auf einen zunehmend wichtigen Teil des Privatlebens legt. Er beobachtet auch die konkreten Ableitungen mit Interesse. «Das Recht auf ein Offline-Leben, das ist wirklich neu.» Ein solches Recht, denkt er, würde die Umstellung auf eine rein digitale Verwaltung verhindern und wohl auch den Wegfall von papiernen Gesetzessammlungen.

Grundrecht wird in politischen Debatten genutzt

In Genf sieht Alexis Roussel bereits erste Folgen des Rechts auf digitale Unversehrtheit. Mittelschüler nutzen dort nicht mehr die Bürosoftware Microsoft Office, sondern die nichtkommerzielle Alternative Libre Office. Das Bildungsdepartement begründete den Wechsel gegenüber der Zeitung «Le Temps» damit, dass Microsoft seit einem Update seiner Lizenzbestimmungen persönliche Daten wie Namen und E-Mail-Adressen erhält. Der Kanton jedoch darf Daten nur noch bei ausländischen Konzernen verarbeiten, wenn sie dort «adäquat» geschützt sind.

Noch weiter geht der Verein Rune-Genève. Er will ein gesellschaftliches Nachdenken über die generelle Nutzung von digitalen Geräten anstossen. Kürzlich lancierte er eine Petition, welche die volle Anwendung des Rechts auf digitale Unversehrtheit in den Schulen fordert. Der Verein kritisiert etwa, dass bereits Grundschüler digitale Zugänge zu Unterrichtsmaterialien ohne Zustimmung der Eltern erhielten und dass in den Schulen Software von ausländischen Datensammlern und Steueroptimierern wie Google genutzt werde statt Alternativen lokaler Anbieter.

Auch im Kanton Neuenburg wird das neue Grundrecht bereits konkret in politischen Debatten aufgeführt. Die freisinnige Gemeinderätin Catherine Zeter sagte im Fernsehen RTS zur geplanten Schliessung der Postfiliale in Boudry, dass der Konzern am liebsten vermutlich seine Dienstleistungen nur noch digital anbieten wolle. Das aber, sagte Zeter, verstosse «komplett» gegen das Recht auf ein Offline-Leben, das die Neuenburger gerade mit ihrem neuen Grundrecht beschlossen hätten.

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