Mittwoch, November 12

Der Gründer der Emmaus-Gemeinschaft, Abbé Pierre, wird in Frankreich wegen seines Einsatzes für Arme und Obdachlose fast wie ein Nationalheiliger verehrt. Nun enthüllt ein Untersuchungsbericht, dass er Frauen sexuell belästigt hat.

«Gewöhnlich weiss ich mich zu verteidigen, aber da war das ja so gut wie der Herrgott. Was kannst du machen, wenn dieser Herrgott dir so etwas antut?» Das sagte eines von bisher sieben Opfern mutmasslicher sexueller Aggressionen und Belästigungen durch den Armenpriester Abbé Pierre, den französischen Gründer der international aktiven Emmaus-Gemeinschaft. Die gravierenden Vorwürfe betreffen eine sehr lange Periode von den siebziger Jahren bis 2005. Zwei Jahre später ist Pierre im hohen Alter von 94 Jahren verstorben.

Die Emmaus-Gemeinschaft hat am Mittwoch konsterniert mitgeteilt, dass sich Abbé Pierre nach Aussagen von sieben Frauen eines Verhaltens und Taten schuldig gemacht habe, «die als sexuelle Aggression und sexuelle Nötigung eingestuft werden können». Die Organisation hatte aufgrund von Aussagen eines mutmasslichen Opfers im vergangenen Jahr eine Audit-Agentur damit beauftragt, den Hinweisen nachzugehen. Für eine gerichtliche Untersuchung war es wegen der Verjährung der Vorfälle zu spät.

Warnungen unter Frauen

Die katholische Tageszeitung «La Croix» und andere Publikationen konnten Kenntnis der Ergebnisse dieser Untersuchung nehmen. Im Bericht wird die Anonymität der Aussagenden gewahrt. Sie beklagen anzügliche Bemerkungen und unanständige Annäherungsversuche, aber auch unerwünschte Berührungen seitens des Priesters.

In allen Fällen handelte es sich um Frauen im Umkreis der Organisation, um Angestellte oder ehrenamtliche Mitarbeitende der Gemeinschaft oder von Emmaus unterstützte Personen. Eines der mutmasslichen Opfer war zur Tatzeit minderjährig. Alle erklärten, sie seien vom Verhalten des Abbé derart überrascht gewesen, dass sie sich praktisch wehrlos gefühlt hätten. Im Nachhinein erfährt man aus diesem Bericht aber auch, dass die weiblichen «Kolleginnen» schon sehr früh unter sich den Rat weitergegeben hätten, nie allein zu dem Armenpriester zu gehen.

Der Schock angesichts dieser Enthüllungen ist gross. «Nein, nicht auch noch der Abbé Pierre!», so lautet meistens die Reaktion der Leute. Denn der 1912 in Lyon unter seinem bürgerlichen Namen Henri Grouès geborene Emmaus-Gründer ist oder war fast eine Art Nationalheiliger und für viele ein Idol oder Vorbild einer praktizierten christlichen Nächstenliebe.

Nun wird selbst er, wie andere Persönlichkeiten vor ihm, von der #MeToo-Welle eingeholt und von seinem Denkmalsockel gestossen. Dies, obschon Abbé Pierre zwei Jahre vor seinem Tod in einem Buch in Interviewform gestanden hatte, dass er es in seinem Priesterleben mit dem Keuschheitsgelübde nicht immer so ernst genommen und gelegentlich der «Macht der Versuchung nachgegeben» habe.

Eine Bewegung mit internationalem Erfolg

Abbé Pierre hatte sich während des Zweiten Weltkriegs in der Widerstandsbewegung gegen die Nazi-Besetzung engagiert und wurde dafür von General de Gaulle als Kriegsheld ausgezeichnet. Mit der Zustimmung des Pariser Erzbischofs kandidierte er 1945 für die christlichdemokratische Partei MRP und wurde drei Mal als Abgeordneter gewählt. Bekannt ist er vor allem wegen seines jahrzehntelangen Kampfs für die Obdachlosen, namentlich wegen seines historisch gewordenen Appells am Radio zu einem «Aufstand der Güte» im äusserst harten Winter von 1954. Darin ersuchte er seine Landsleute, sich angesichts der besonders dramatischen Situation für die in den Bidonvilles hausenden, hungernden Armen grosszügig zu zeigen. Mit den Spenden von 500 Millionen Francs wurden daraufhin Notunterkünfte für Obdachlose gebaut.

Die von ihm 1949 gegründete Emmaus-Gemeinschaft, die vorwiegend aus dem Verkauf von Recycling-Möbeln finanziert wird, existiert heute in mehr als vierzig Ländern. Der Postum-Skandal erschütterte diese internationale humanitäre Bewegung. Die Fondation Emmaus forderte weitere allfällige Opfer ihres Gründers auf, sich zu melden und Zeugnis abzulegen. Frankreich hat mit dem Fall seines «Nationalheiligen» einen Mythos weniger.

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