Tatsächlich sei die russische Opposition seit 2012 am Ende, schreibt die in Berlin lebende Schriftstellerin Irina Rastorgujewa.
Am vergangenen Wochenende fanden in mehreren europäischen Städten Antikriegsmärsche von Russen statt. Initiiert wurde die Aktion von Julia Nawalnaja, der Witwe von Alexei Nawalny, der vor neun Monaten am Ostrand des Polaren Ural in einem Straflager mutmasslich ermordet wurde, sowie von Wladimir Kara-Mursa und Ilja Jaschin, die kürzlich im Rahmen eines internationalen Häftlingsaustauschs aus dem Gefängnis entlassen und in den Westen abgeschoben wurden.
Die Anführer des russischen Widerstands in Berlin ernannten für den Marsch am 17. November vom Henriette-Herz-Park zur russischen Botschaft die Postulate: «Sofortiger Abzug der russischen Truppen vom Territorium der Ukraine»; «Entmachtung von Wladimir Putin als Präsident und Verfolgung als Kriegsverbrecher und Mörder»; «Freilassung aller politischen Gefangenen, die vom Putin-Regime inhaftiert wurden». Nach Ansicht einiger Demonstranten klingen diese Forderungen mehr als naiv. Sie gäben lediglich eine Position vor, würden aber keine konkreten Massnahmen erkennen lassen. Das einzige praktische Ziel in Berlin bestand darin, die Positionen von Nawalnaja, Jaschin und Kara-Mursa zu stärken und den russischen Widerstand um deren Namen zu vereinen. Dazu reicht jedoch eine solch symbolische Aktion nicht aus.
«Putin ist ein Mörder» gegen «Russland wird frei sein»
Dieser Marsch hat den Widerstand nicht geeint, aber Menschen mit völlig unterschiedlichen Zielen immerhin für eine gewisse Zeit zusammengeführt: Anarchisten, LGBTQ-Aktivisten, eine Gruppe russischer Freiwilligenkorps und Antifaschisten, Dekolonisierungsbefürworter, Gegner und Unterstützer von Widerstandsanführern, Gegner und Befürworter von Waffenlieferungen an die Ukraine. Nach Angaben der Polizei nahmen an dem Marsch etwa 1500 Demonstranten teil. Neben den immer wiederkehrenden Slogans «Russland wird frei sein» und «Nieder mit der Macht der Tschekisten», die von den Moskauer Protesten in Erinnerung geblieben sind, riefen einige «Ruhm für die Ukraine – Ruhm für die Helden», die Worte des weissrussischen Protests, «Es lebe Belarus», sowie «Sieg für die Ukraine, Freiheit für Russland» und natürlich: «Nein zum Krieg!»
Es gab auch solche, die sich gegen die Opposition stellen. Der Künstler Semjon Skrepetskij kam zu der Demonstration mit selbstgebastelten Medaillen aus Bierdeckeln, um sich über die zahlreichen Auszeichnungen, die Julia Nawalnaja in den letzten neun Monaten erhalten hat, lustig zu machen. In regelmässigen Abständen rief er: «Wir sind hier die Macht», und wenn die Menge «Putin ist ein Mörder» rief, rief jemand neben Skrepetskij entrüstet: «Putin ist ein Mörder, aber die Russen sind es nicht? Und die Russen sind keine Mörder? Nur Putin ist ein Mörder – und das war’s?» Die Menge brüllt: «Russland wird frei sein», worauf erschallte: «Wenn die Russen frei sein wollen, sollen sie für die Freiheit kämpfen wie die Ukrainer.»
Es fanden zeitgleich auch Kundgebungen in Strassburg, Lissabon, Erewan, Düsseldorf und weiteren Städten statt. Michail Chodorkowski unterstützte die Antikriegskundgebung in London, die am 19. November unter dem Titel «1000 Tage Krieg, 9000 Tage Regime» lief. Leider gingen die Redner in Berlin nicht darauf ein. Viele warfen den Organisatoren des Berliner Marsches vor, dass es keine Interaktion mit den Anführern und Vertretern anderer Bewegungen im Exil gegeben habe, und äusserten die Hoffnung auf eine mögliche Einheit der Opposition in der Zukunft.
«Was schreien sie da?»
«Nawalny ist ein Held Russlands.»
«Klar, ein solches Land kann nur solche Helden haben.»
Angekündigt wurde der von Beginn an umstrittene Berliner Marsch mit einem Foto der russischen Antikriegsproteste im Jahr 2014, illustriert mit russischen und ukrainischen Fahnen. Die erste Kontroverse brach wegen der Flagge los. Ob aus Naivität oder Zynismus, die Organisatoren meinten, dass die weiss-blau-rote Fahne ein Symbol des Kampfes gegen die Diktatur von 1991 sei, und nicht das, was die vielen anderen dachten: ein Symbol des russischen Aggressors und der Unterdrückung. Auf dem Marsch selbst traten einige Demonstranten mit russischen Flaggen auf, auch wenn sie auf die eine oder andere Weise beschimpft wurden.
«Schau mal, er hat diesen blutigen Lappen rausgeholt. Unter dieser Flagge werden Ukrainer getötet.»
«Vielleicht ist er ein Provokateur?»
«Ich glaube, er ist einfach nur ein Idiot.»
Die Opposition ist am Ende
Die Berliner Demonstration zeigte nicht nur die Spaltung der russischen Emigration auf, sondern spiegelte auch die Vergänglichkeit des politischen Kampfes in der gegenwärtigen Situation wider. Tatsächlich ist die russische Opposition seit 2012 am Ende.
Die Organisatoren planten den Marsch als Solidaritätsbekundung für diejenigen, die in Russland geblieben sind und die derzeitigen Behörden nicht unterstützen. Doch die Redner sprachen hauptsächlich über ein freies Russland, über die Bedeutung der Teilnahme an Kundgebungen, darüber, dass es Putin war, der den Krieg begonnen hat. Und sie erwähnten keine der Initiativen, die auf der Demonstration selbst organisiert wurden. Zum Beispiel hat die Bewegung «Vesna» (zu Deutsch: Frühling) die Aktion «Übermittelt aus Russland» durchgeführt, bei der Aktivisten aus 41 Städten Antikriegsbotschaften von Russen gesammelt haben. Die Teilnehmer des Berliner Marsches übertrugen diese Botschaften auf ihre Plakate, um den Protest der russischen Bevölkerung sichtbar zu machen.
«Nein zum Krieg. Ruhm für die Ukraine.» Elena, Ischewsk.
«Ich will in einem freien Land aufwachsen.» Wika, 14 Jahre alt, Moskau.
«Heute die Ukraine retten, morgen ganz Europa.» Unbekannter Autor, St. Petersburg.
Als die Kolonne auf ihrem Weg durch Berlin die russische Botschaft erreichte, sprach während der Reden nur Elena Gajewa aus, was wirklich wichtig war. Die Aktivistin der in Berlin ansässigen russischen Antikriegsvereinigung Demokrati-JA, sagte: «Putin hat den Krieg begonnen, aber es ist nicht nur Putin, der ihn führt, und wir müssen erkennen, dass unser Weg zu einem freien und demokratischen Russland über die Reue gegenüber der Ukraine und die Hilfe für die Ukraine führt. Wir müssen der Ukraine um jeden Preis helfen, das ist unsere moralische Pflicht. Sieg für die Ukraine, Freiheit für Russland!» Vertreter der Demokrati-JA gehörten zu denen, die bei diesem Marsch die Lieferung von Waffen an die Ukraine forderten.
«Wissen Sie, wo ich das Plakat abgeben kann?»
«Die Organisatoren sammeln es am Auto ein. Nimm es lieber mit nach Hause, es wird dir sicher noch nützlich sein.»
Gefordert, aber planlos
Unweit eines improvisierten ukrainischen Denkmals steht eine Frau mit einem Putin-Popanz auf einem Stock. Auf dem Popanz sind Plakate wie «Putin nach Den Haag», «Ich bin Russe – ich bin gegen Krieg», «Nicht an Krieg gewöhnen». Sie ist aus München angereist und nimmt diesen Popanz seit 2014 mit zu den Protesten. Seit zehn Jahren protestieren Menschen gegen den Krieg, und der Popanz ist immer noch da.
«Was denken Sie über den heutigen Marsch?»
«Ich weiss nicht, was ich sagen soll. Einerseits scheint alles richtig, was sie sagen, andererseits ist nicht klar, was man damit anfangen soll.»
Es gibt offensichtlich eine gewisse Müdigkeit in der Emigrantengemeinschaft. Viele derjenigen, die zu der Demonstration gekommen sind, haben die Ukrainer seit Beginn des Krieges vor über 1000 Tagen und Anti-Kriegs-Basisinitiativen unterstützt oder Geld für politische Gefangene gesammelt. Währenddessen hielten verschiedene ehemalige russische Oppositionspolitiker und Medienpersönlichkeiten Treffen, Sitzungen und Foren ab, in denen sie darüber diskutierten, wie das Russland der Zukunft aussehen könnte, während in der Gegenwart jeden Tag ukrainische Zivilisten sterben. In drei Jahren hätte man, anstatt Foren zu halten und andere dubiose Veranstaltungen zu finanzieren, Geld für einen «Iron Dome» für die Ukraine sammeln können, damit könnte man auch die Region Kursk vor russischen Angriffen schützen. Stattdessen werden die Russen aufgefordert, nicht aufzugeben und zu kämpfen, aber niemand hat einen Plan, wie man kämpfen soll.
Russland muss verlieren, damit es sich demokratisieren kann
Die Organisatoren des Marsches, die nun versuchen, sowohl denjenigen, die geblieben sind, als auch denjenigen, die gegangen sind, gerecht zu werden, riskieren, beide zu verlieren. In der Situation eines offenen militärischen Konflikts wird gefordert, dass man klar Position bezieht. «Ich wünsche der Ukraine den Sieg, aber ich kämpfe nicht, um sie zu bewaffnen.» – «Ich wünsche Putin eine Niederlage, aber nicht Russland.» – «Ich will ein schönes Russland der Zukunft aufbauen, aber ich will keine gewaltsamen Methoden, ich werde in Europa warten, wenn sich dort ein Fenster der Gelegenheit bietet.»
All dies macht keine Hoffnung, dass man mit diesen Anführern kämpfen und einen wirklichen Widerstand erzeugen kann. Es liegt auf der Hand, dass Russland in der gegenwärtigen Situation den Krieg verlieren muss, damit es sich demokratisieren kann. Und damit Russland den Krieg verliert, muss die Ukraine unterstützt werden, auch um ein Fenster der Gelegenheit zu öffnen. Man muss Initiativen unterstützen, die bereits in Russland funktionieren, etwa Organisationen, die ukrainische Flüchtlinge aus dem russischen Territorium herausbringen, ukrainischen Kriegsgefangenen, russischen Deserteuren, Kriegsgegnern, politischen Gefangenen helfen. Und natürlich sollte man auch die Partisanenbewegung und jene Russen unterstützen, die jetzt gegen Putins Armee «für unsere und eure Freiheit» kämpfen. Die Opposition in Russland und in anderen Ländern leistet einen grossen Beitrag, aber aus irgendeinem Grund sprechen die Anführer des russischen Widerstands nicht darüber.
Doch die Zeit des Geredes und der Träume von einer schöneren Zukunft ist vorbei. Es ist an der Zeit, in der Gegenwart zu leben, zu erkennen, dass Putins Politik zur Politik eines ganzen Staates geworden ist, und auf der Grundlage der realen Verhältnisse etwas dagegen zu unternehmen. Unlängst sind zwei der besseren Nachrichten über den Kampf gegen das Putin-Regime erschienen – so schlägt der Warschauer «Kongress der Volksdeputierten» dem Europäischen Parlament vor, mit den vom Putin-Regime beschlagnahmten Geldern russische Kriegsgegner zu entschädigen. Und Jekaterina Duntsowa, eine Journalistin aus Rschew (in der Region Twer), die in diesem Jahr in Russland für die russische Präsidentschaft kandidierte, gab bekannt, dass sie mit der Unterschriftensammlung für den Abzug der russischen Truppen aus anderen Ländern begonnen hat. Die Initiative war die erste Aktion der Bewegung «Klub der unabhängigen Wähler», deren Ziel es ist, Unterschriften gegen jegliche Militäraktion ausserhalb der Russischen Föderation zu sammeln. Im Allgemeinen tut jeder das, wozu er den Mut hat oder wozu ihn das Gewissen drängt.
Irina Rastorgujewa wurde 1983 in Juschno-Sachalinsk, Russland, geboren und lebt als freie Autorin in Berlin. Zuletzt erschien ihr Buch «Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung» bei Matthes und Seitz.