In der amerikanischen Ostküstenmetropole leben rund eine Million Juden. Jährlich werden hier Hunderte von antisemitisch motivierten Hassverbrechen gemeldet – Tendenz steigend.
Der Krieg in Israel und Gaza hallt in New York nach. Die Stadt ist geprägt von der jüdischen Kultur, von den rollenden Mini-Synagogen der Chabad-Lubawitsch-Bewegung bis zu den Bagels. Rund eine Million Jüdinnen und Juden leben hier, mehr als irgendwo sonst ausserhalb Israels. Dennoch ist die Zahl antisemitisch motivierter Hassverbrechen in New York stark gestiegen.
«Einer meiner Studenten ist auf der Strasse zusammengeschlagen worden, weil er, wie die Täter sagten, jüdisch aussehe», sagt Sivan Rotholz, reformierte Rabbinerin und Direktorin der Erwachsenenbildung an der Central Synagogue in New York. Sie spüre in ihrem Berufsalltag nur zu deutlich, dass der Antisemitismus in New York seit dem 7. Oktober 2023 zugenommen habe.
Eine kürzlich veröffentlichte Statistik der Stadtpolizei weist aus, dass in den letzten Jahren mehr als die Hälfte aller Hassverbrechen in New York an Jüdinnen und Juden verübt wurden. In Zahlen: Im Jahr 2024 waren 345 jüdische Menschen Opfer der insgesamt 641 erfassten «hate crimes», sieben Prozent mehr als im Jahr zuvor. Straftaten gegen Musliminnen und Muslime sind gemäss Polizei im selben Zeitraum von 26 auf 43 angestiegen. Die erfassten Taten reichen von Bedrohungen über Gewaltverbrechen bis Vandalismus.
Rekordhohe Zahl von Hassverbrechen gegen Juden
Diese Steigungen erfolgen auf hohem Niveau. Schon die Jahre vor dem jüngsten Krieg in Nahost gingen die Zahlen von Hassverbrechen allgemein und von antisemitischen im Besonderen nach oben. «Wir erleben seit 2013 einen Anstieg antisemitischer Vorfälle», sagt Scott Richman, Regionaldirektor der darauf spezialisierten NGO Anti-Defamation League (ADL) von New York und New Jersey: «Ich sagte schon in Interviews zwischen 2019 und 2022, dass es sich erneut um ein Rekordjahr antisemitischer Übergriffe handle. Also lange vor dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023.»
Die Anti-Defamation League führt seit 1979 eine eigene detailliertere Antisemitismus-Statistik. So zählte sie 2023 im Staat New York 815 Vorfälle, die Mehrheit in der Stadt. Die Zahlen für 2024 werden erst im April publik, aber Scott Richman rechnet mit einem weiteren Anstieg.
«In meinem Umfeld fühlen sich viele unsicher, wenn sie sichtbar jüdisch sind, und fragen sich, ob sie ihren Davidstern an der Aussenseite ihrer Kleidung tragen wollen oder nicht, ob sie auf der Strasse eine Kippa aufsetzen wollen oder nicht», sagt Rotholz. Gerade auch bei den Protesten an Universitäten würden sich viele jüdische Studenten auf dem Campus nicht mehr sicher fühlen.
Sivan Rotholz definiert sich als queer, ist Feministin – und progressiv. Sie sagt: «Menschen, an deren Seite wir für reproduktive Rechte, für ‹Black Lives Matter›, für wirtschaftliche Gerechtigkeit marschiert sind, stellen sich jetzt gegen uns.» Plötzlich hätten Zionisten das Gefühl, in gesellschaftspolitisch progressiven Kreisen nicht willkommen oder sicher zu sein. Das gelte auch für Juden, die sich nicht klar antizionistisch positionieren würden.
Berechtigte Kritik oder Antisemitismus?
Die propalästinensischen Demonstrationen während der letzten zwei Jahre hätten in New York deutlich öfter antisemitische Zeichen oder Parolen getragen als vergleichbare frühere Kundgebungen, sagt Scott Richman. Organisationen, die Israel nahestehen – dazu gehört die ADL –, wird wiederum vorgeworfen, sie täten Kritik an der israelischen Regierung, an Völkerrechtsverletzungen oder das Einstehen für die Palästinenser bereits als antisemitisch ab.
«Wir bekommen mehr Vorfälle gemeldet, als es in die Statistik schaffen», betont Scott Richman, «dann erklären wir den Leuten: ‹Das ist Kritik an Israel, nicht Antisemitismus. Sie mögen die Kritik nicht gerne hören, wir ebenso wenig, aber es ist kein Antisemitismus.›» Die ADL halte sich an die weltweit verbreitete Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IRA). Diese basiere auf den drei D: Dämonisierung, Delegitimierung, also das Abstreiten des Existenzrechts Israels, und Doppelmoral – indem «man an den Staat Israel einen Massstab anlegt, den man an keine andere Nation anlegen würde».
Für die Palästinenser einzutreten, sei an sich nicht antisemitisch und sei nicht zu verwechseln mit der Befürwortung der Terrororganisation Hamas, die Israel das Existenzrecht verweigere, sagt Rabbinerin Sivan Rotholz. Sie wünsche sich «mehr Nuancen in einer zunehmend schwarz-weissen Welt». Es sei schön, wenn jemand sein Mitgefühl für die Opfer vom 7. Oktober ausdrücke und gleichzeitig Israels Vorgehen wegen der hohen Zahl von ermordeten palästinensischen Bürgern kritisiere. «Mehrere Wahrheiten existieren gleichzeitig. Doch in der polarisierten Zeit, in der wir leben, gehen solche ausgewogenen Perspektiven immer öfter verloren.» In der jüdischen Reformbewegung, in der sie arbeite, sehe sie viel von dieser Differenziertheit. «Aber wir sind nicht die lautesten Stimmen.»
«Trump liebt das jüdische Volk»
Im öffentlichen Fokus steht derzeit der Antisemitismus von links. Dabei ist mit Donald Trump erneut ein Mann zum mächtigsten Amerikaner aufgestiegen, der seine Nähe zu den Alt-Rights nicht verhehlt und schon öfter mit antisemitischen Klischees spielte – im Wahlkampf gegen Hillary Clinton schaltete er etwa einen Werbespot, in dem er prominenten Juden wie George Soros «globale Sonderinteressen» unterstellte.
Trump behandelt amerikanische Jüdinnen und Juden bevorzugt so, als ob nicht die USA, sondern Israel ihre eigentliche Heimat wäre. Wegen seiner Israel-freundlichen Haltung ist er bei vielen Jüdinnen und Juden in den USA dennoch sehr beliebt.
Scott Richman möchte sich nicht direkt zu Donald Trump äussern: «Wir beziehen als gemeinnützige Organisation keine Stellung zu Kandidaten und würden auch nie eine allgemeine Aussage über Präsident Trump machen. Aber wenn wir bedenkliche Stellungnahmen oder eingeschränkte Bürgerrechte sehen, so prangern wir das an.» Sivan Rotholz: «Trump glaubt an Israel, aber zugleich ruft er einen gewissen Antisemitismus bei der Rechten hervor. Er ist Teil einer interreligiösen Familie, und ich denke, dass er das jüdische Volk liebt.»
Hass von aussen, Zuflucht nach innen
Beide, Rotholz wie Richman, haben zu ihren Lebzeiten noch nie so viel offenen Antisemitismus erlebt, online wie im Alltagsleben. Eine Weile seien wiederholt falsche Bombenalarme eingegangen. Die Angst wächst. Richman erzählt, wie seine Synagoge in Westchester, eine Gemeinde nördlich von New York City, sich in eine Festung verwandelt hat. «Wir haben etwas, das man nur als Mauer um die Synagoge herum bezeichnen kann; die Leute müssen sie durch ein Sicherheitstor betreten, an dem ein Wachmann sitzt. Eine Aufsichtsperson trägt stets einen Panik-Knopf auf sich, mit dem sie die Polizei alarmieren kann.»
Doch es gibt auch eine erstaunliche Gegenreaktion, wie Sivan Rotholz erwähnt: «Seit dem 7. Oktober betonen viele Menschen ihre jüdische Identität stärker. Sie kommen öfter zu den Gottesdiensten oder laden mehr Leute zum Sabbatessen ein. Ausserdem hatten wir noch nie so viele Interessenten für jene Kurse, die als Basis für eine Konversion dienen.» Allein in Sivan Rotholz’ Central Synagogue werden diesen März 178 Menschen ihren Glaubenswechsel zum Judentum feiern. «Antisemitismus ist der älteste Hass der Welt, wir können ihn nicht besiegen», sagt Rabbinerin Rotholz, «so wendet sich das jüdische Volk in Krisenzeiten nach innen, zur jüdischen Gemeinschaft und zur jüdischen Identität.»