Dienstag, April 1

Dass sich Juden in der Schweiz nicht mehr sicher fühlen können, ist ein Skandal. Antisemiten müssen geächtet werden, egal, zu welcher Gruppe sie gehören.

Die Zahlen sind erschreckend und beschämend: Fast 30 Prozent der Schweizer Jüdinnen und Juden haben schon darüber nachgedacht auszuwandern – es wäre eine Flucht vor dem Antisemitismus, der auch hierzulande zunimmt. Jeder Zweite hat in den letzten zwölf Monaten eine antisemitische Belästigung erlebt, auch diese Zahl stammt aus einer neuen Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).

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Vor einem Jahr griff ein jugendlicher IS-Anhänger mit tunesischen Wurzeln in Zürich einen orthodoxen Juden mit einem Messer an, der Familienvater überlebte nur mit Glück. Man muss befürchten, dass irgendwann wieder ein Jude getötet wird, nur weil er Jude ist. Der letzte nachweislich antisemitisch motivierte Mord auf Schweizer Boden geschah vor über achtzig Jahren in Payerne, mitten im Zweiten Weltkrieg.

Die Situation der Schweizer Jüdinnen und Juden ist noch etwas besser als in Frankreich oder Deutschland. Aber sie hat sich verschlechtert. Fast täglich werden Juden auf der Strasse beschimpft oder angerempelt. Antisemiten scheinen jede Hemmung verloren zu haben. So erstaunt es nicht, dass es immer mehr Juden gibt, die sich nicht mehr mit Kippa oder Davidstern aus dem Haus getrauen.

Der Auslöser ist offensichtlich

Der Auslöser der gegenwärtigen Welle von Judenfeindlichkeit sind die Terrorattacken der Hamas vom 7. Oktober 2023 und die harten Vergeltungsschläge der israelischen Armee im Gazastreifen. Es gibt also in diesem Land Menschen, die den Schweizer Juden kollektiv die Schuld für die Politik Israels geben – egal, ob die so Angegriffenen einen israelischen Pass haben, egal, wie sie zur Regierung Netanyahu stehen.

Das ist bereits eine Form von Antisemitismus. Und es ist angesichts des «Triggers» offensichtlich, woher sie kommt: Verantwortlich dafür sind insbesondere Personen mit Wurzeln in arabischen Ländern oder andere Muslime, die sich mit den Palästinensern solidarisieren.

Zwar hat die Schweiz etwa im Vergleich mit Frankreich Glück, was die ethnische Zusammensetzung ihrer islamischen Bevölkerung angeht: Ein grosser Teil der rund 450 000 hiesigen Muslime stammt vom Balkan. Die Albaner und Bosnier leben – wenn überhaupt – eine eher gemässigte Form des Islams, und der Nahostkonflikt schürt bei ihnen weniger Emotionen als bei Migranten aus der Levante oder aus dem Maghreb. Deren Antisemitismus speist sich vor allem aus dem arabischen Nationalismus, für den der Judenstaat als grosses Feindbild dient.

Doch man darf nicht naiv sein: Judenfeindliche Stereotype sind auch bei hier lebenden Muslimen überproportional verbreitet. Eine ZHAW-Studie zeigte vor vier Jahren auf, dass fast 20 Prozent der jungen Muslime Aussagen zustimmen wie: «Juden haben in der Schweiz zu viel Einfluss» oder «Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig». Von den besonders Frommen sind sogar 30 Prozent dieser Meinung. Bei christlichen oder konfessionslosen Jugendlichen sind es jeweils lediglich 6 Prozent.

Nährboden für Gewalt

Nicht jeder, der solche Gedanken hat, bespuckt auf der Strasse Juden oder sprayt antisemitische Parolen auf Hauswände. Doch die Ressentiments sind der Nährboden für eine Haltung, die tätliche Übergriffe befördert und rechtfertigt – bis hin zu Mordversuchen wie vor einem Jahr in Zürich.

Den islamistischen Kreisen muss die Mehrheitsgesellschaft unmissverständlich klarmachen, dass Antisemitismus inakzeptabel ist, genauso wie Homophobie oder die Unterdrückung der Frauen. Das gilt insbesondere auch für Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan: Die Schweiz gewährt ihnen Schutz, aber nicht ohne Gegenleistung. Wer gegen Andersgläubige hetzt, hat hier nichts verloren.

Kern des Antisemitismus und jeder Form von Rassismus ist, dass man Menschen aufgrund ihrer Herkunft einer Gruppe zuteilt und automatisch alle negativen Eigenschaften, die bei dieser Gruppe angeblich verbreitet sind, auch jedem Mitglied zuschreibt: Juden sind gierig nach Geld und Macht, Juden sind verschlagen, Juden sind . . .

In einer aufgeklärten, freiheitlichen Gesellschaft hat jedoch der Einzelne für sein Tun geradezustehen. Und darf im Gegenzug darauf vertrauen, nicht für das Fehlverhalten anderer aus seine Religionsgruppe oder Ethnie verantwortlich gemacht zu werden. Das muss für alle gelten – also auch für die Mehrheit der Muslime, die keine judenfeindliche Überzeugung hat und sich erst recht keiner Übergriffe schuldig macht.

«Wir sagen unseren Jungen, dass sie sich selbst ins Bein schiessen, wenn sie auf Hassbotschaften hören, statt ein anständiges Leben zu führen», betont denn auch Önder Günes, der Präsident der Föderation islamischer Dachorganisationen der Schweiz. Die Repräsentanten des Islams wissen genau, wie verheerend antisemitisch motivierte Gewalttaten für die Reputation der ganzen muslimischen Gemeinschaft sind.

Die Blindheit der Linksextremen

So muss man festhalten: Der Antisemitismus ist ein Phänomen, für das in der Schweiz Muslime verantwortlich sind. Aber auch Angehörige vieler anderer Gruppen. Sie eint der Glaube, dass alles gut werde, wenn erst einmal die Juden weg wären, wie der Historiker Erik Petry sagt.

Das zeigt sich derzeit besonders deutlich bei propalästinensischen Linksextremen. Ihre Ideologie und ihre Parteinahme für die angeblich Leidtragenden eines westlich-jüdischen Imperialismus machen sie blind für die Komplexität des Nahostkonflikts. So fordern sie mit ihrem Slogan «From the River to the Sea» eine Auslöschung des Judenstaats und sind sich nicht zu blöd, Parolen wie «queerfeministisch-antizionistisch» zu schreien.

Mitte März, bei einer Veranstaltung zum Weltfrauentag, verwehrten Linksextreme in Lausanne einem Kollektiv von Jüdinnen, Jesidinnen und Kurdinnen den Weitermarsch und pöbelten sie an. Dies, weil die Demonstrantinnen im Andenken an die Vergewaltigungen vom 7. Oktober oder die sexuelle Gewalt des IS in Syrien forderten: «Stoppt den islamistischen Terror gegen Frauen».

Solidarität mit allerlei Opfern des Patriarchats, aber sicher nicht mit geschändeten und ermordeten Jüdinnen: Über so viel Verlogenheit könnte man sich lustig machen, wenn es nicht so traurig wäre. Derzeit haben sich die Pro-Palästina-Aktivisten auf Sophie Hunger eingeschossen und wollen einen Auftritt der Künstlerin im alternativen Kulturzentrum Dampfzentrale in Bern verhindern.

Ihr «Vergehen»: Hunger engagiert sich öffentlich gegen Antisemitismus und sang in einem Stück der deutschen Hip-Hop-Gruppe Antilopen Gang mit. Das Lied setzt sich kritisch mit der Hamas und deren Unterstützern in Europa auseinander. «Heute sind die grössten Antisemiten alle Antirassisten», heisst es darin etwa.

Ein uraltes Phänomen

Es mag angesichts solcher befremdenden Vorfälle verlockend sein: Aber der Rest der Gesellschaft macht es sich zu einfach, wenn er mit dem Finger auf Muslime und Linksextreme zeigt und Antisemitismus ausschliesslich als deren Problem versteht. Judenfeindlichkeit gab es hierzulande schon lange, bevor der erste Muslim zuwanderte. Sie hat sich in der Form gewandelt, ist aber nie verschwunden.

Der alte christliche Antisemitismus, der die Juden als «Gottesmörder» verunglimpft, büsst mit der Distanzierung breiter Kreise vom Glauben an Relevanz ein. Doch bei Rechtsextremen mit ihrem völkischen Denken und ihrer Vorliebe für Verschwörungstheorien ist der Judenhass weiterhin verbreitet. Und auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft passieren immer wieder Dinge, die einen offenbar tief verwurzelten Antisemitismus zum Vorschein bringen.

Dazu gehören die Episoden aus den Bündner Tourismusorten, wo «normale» Schweizer Juden zum Duschen aufforderten oder ihnen keine Schlitten mehr ausleihen wollten. Im letzten Herbst erhielten die Betreiber eines temporären Gebetsraums in Davos einen Brief, in dem stand: «Scheiss Juden, raus aus Davos!»

Oder die Affäre, die sich jüngst in Payerne abgespielt hat: «Endliquidation, Sonderangebote von 39 bis 45%», pinselten Fasnächtler auf das Schaufenster des Kaufhauses Manor, das kürzlich von seinem jüdischen Besitzer geschlossen worden war. Die Zahlen sind offensichtlich eine Anspielung auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Solche Ausfälle lassen sich nicht mit närrischer Freiheit rechtfertigen. Der Mann, der im August einen Brandanschlag auf die Zürcher Synagoge versuchte, war ebenfalls weder linksextrem noch muslimisch.

Die Politik muss handeln

Dass die rund 18 000 Schweizer Jüdinnen und Juden von verschiedener Seite unter Beschuss geraten und dass sich deshalb viele von ihnen hier nicht mehr sicher fühlen, ist ein Skandal. Die Politik muss dringend gegensteuern. Zwar ist in letzter Zeit bereits einiges passiert: Das Parlament hat die Mittel für Sicherheitsmassnahmen der jüdischen Gemeinden erhöht und sich für einen Aktionsplan gegen Rassismus und Antisemitismus ausgesprochen. Der Bundesrat will Nazi-Symbole verbieten.

Doch das reicht noch nicht. Zu Recht fordert der Schweizerische Israelitische Gemeindebund von der Politik Massnahmen gegen Hass und Verschwörungstheorien auf den Social-Media-Plattformen oder mehr Unterstützung bei Präventionsmassnahmen. Zudem sollte der Holocaust zwingend Unterrichtsstoff auf Sekundarstufe werden.

So dass kein Jugendlicher mehr die Schule abschliessen kann, ohne sich je vertieft mit dem nationalsozialistischen Völkermord auseinandergesetzt zu haben. Das wird den Antisemitismus nicht ausmerzen. Aber wer jemals Bilder von Auschwitz gesehen oder Augenzeugenberichte gelesen hat, überlegt es sich vielleicht zweimal, bevor er ein Hakenkreuz auf eine Synagoge sprayt. Oder auf Telegram bedauert, dass Hitler sein Werk nicht vollenden konnte.

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