Seit seinem Wechsel in den Radsport vor vier Jahren erlebt Anton Palzer die Härten des Profidaseins mit voller Wucht – das macht ihn glücklich.

Sein Kardiologe sagte ihm, wenn ein Aufzug in Sicht sei, solle er diesen nehmen. Aber an Ausflüge in andere Häuser war für Anton Palzer im Herbst 2024 gar nicht zu denken, Aufzug hin oder her. Nachts schlief der deutsche Radprofi zwölf Stunden am Stück, dann verzehrte er das von der Freundin vorbereitete Frühstück und döste auf der Couch weiter, bis sie nachmittags von der Arbeit zurückkam. Vier Wochen lang ging das so. Palzer sagt: «Es war kein Funken Energie mehr da.»

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Seit zwölf Jahren war Palzer zu diesem Zeitpunkt bereits Profisportler. Jetzt zwang ihm eine Herzbeutel-Entzündung nicht nur eine Trainingspause mit offenem Ende auf. Sie fesselte ihn fast ans Bett und brachte ihn auch psychisch ans Limit: Der Gedanke, die Karriere könnte vorbei sein, war omnipräsent.

Wenige gesundheitliche Probleme sind für Athleten tückischer als Erkrankungen am Herzen. Der Fussballer Christian Eriksen überlebte einen Herzstillstand während eines EM-Spiels nur knapp. Der Radfahrer Sonny Colbrelli, Sieger bei Paris–Roubaix, brach nach einer Zielankunft zusammen, danach stellten die Ärzte bei ihm eine Herzrhythmusstörung fest. Nathan Van Hooydonck, ebenfalls ein Veloprofi, verursachte einen rätselhaften Verkehrsunfall, woraufhin eine Anomalie des Herzmuskels diagnostiziert wurde.

Colbrelli und Van Hooydonck mussten abrupt aufhören. Palzer dagegen sitzt seit Dezember wieder auf dem Rad. Am Vorabend der Tour de Romandie an diesem Montag erzählt er, wie er sich zurückkämpfte, sobald ihm die Ärzte grünes Licht gaben. Wie er sogar an Weihnachten sechs Stunden trainierte, anschliessend auf Eigeninitiative für drei Wochen ins Trainingslager auf Gran Canaria flog. Das Gespräch findet in einem seelenlosen Hotel statt, das die Westschweizer Rennveranstalter seinem Team Bora zugeteilt haben, an einer tristen Ausfallstrasse im Niemandsland zwischen Lausanne und Genf. Nichts könnte dem Deutschen mehr egal sein als die unglamouröse Umgebung: Er strahlt pure Lebensfreude aus.

Leistungssport ist für ihn kein Beruf, sondern ein Privileg. «Wir werden dafür bezahlt, unserem Hobby nachzugehen», sagt er. Palzer klingt immer noch, als könne er sein Glück kaum fassen, Radprofi zu sein. Manchmal passiere es, erzählt er, dass ein junger Kollege über eine schlechte Massage klage oder eine langweilige Mahlzeit. Dann herrsche er diesen an: «Weisst du eigentlich, wie gut es uns geht?»

Auf den Spuren von Kilian Jornet oder Ueli Steck

Er ist, obwohl bereits 32 Jahre alt, erst seit vier Jahren dabei. Vorher zählte Palzer als Skibergsteiger zur Weltspitze, diesen Sport hatte er seit seiner Kindheit betrieben, hier gewann er Weltcup-Rennen und Medaillen an Weltmeisterschaften. Und im Sommer zelebrierte der Berchtesgadener gelegentlich Verrücktheiten. Beispielsweise bewältigte er die eigentlich zweitägige Überschreitung der drei Watzmann-Gipfel in halsbrecherischer Manier rennend in 2:47 Stunden. Was Palzer im Berglauf ohne gezieltes Training zu leisten vermochte, war verblüffend – immer wieder düpierte er die Spezialisten.

Anton Palzer Watzmann-Überschreitung SUB 3 Rekord

Nach dem Watzmann-Abenteuer spielte er mit dem Gedanken, weitere Geschwindigkeitsrekorde im Hochgebirge zu brechen, am Matterhorn oder am Montblanc, auf den Spuren des Szene-Stars Kilian Jornet oder des verstorbenen Ueli Steck. Um dem Ziel näher zu kommen, tat Palzer etwas Kontraintuitives: Er kontaktierte ausgerechnet den Radsport-Trainer Helmut Dollinger.

Palzer kann das einigermassen einleuchtend begründen. In den Grundzügen, sagt er, sei das Training im Ausdauersport überall gleich. Der Radsport sei jedoch die härteste Spielart überhaupt, was offensichtlich auch bedeute, dass die Trainer dort besonders gute Arbeit leisteten. Und er wolle von den Besten lernen.

Dollinger tat, was Radsport-Trainer eben tun: Er setzte seinen Gast zu Testzwecken aufs Velo. Und traute seinen Augen kaum, als Palzer Maximalbelastungen über drei, acht und zehn Minuten absolvierte. Noch eindrücklicher als das Tempo war seine maximale Sauerstoffaufnahme (VO2max) von 92 Millilitern pro Minute pro Kilogramm Körpergewicht. Der vierfache Tour-de-France-Sieger Chris Froome kam auf dem Zenit seiner Leistungsfähigkeit nur auf einen Wert von 86.

Daraufhin ergab das eine das andere: Dollinger informierte den Bora-Chef Ralph Denk, der Palzer in sein Büro einlud und ihm einen Vertrag anbot. Aus dem Skibergsteiger, der bisher lediglich 5000 bis 6000 Trainingskilometer pro Jahr auf dem Velo abgespult hatte, wurde ein Radprofi. Er wagte den Wechsel zu einem aussergewöhnlich späten Zeitpunkt: Immer wieder schafften es Quereinsteiger in letzter Zeit in den Radsport, etwa der ehemalige Skispringer Primoz Roglic oder der frühere Läufer Michael Woods, aber sie waren deutlich jünger als 28.

An einer Teamsitzung vor der Saison 2021 stellte Denk den Neuzugang mit folgenden Worten vor: «Niemand in diesem Raum hat den Namen je gehört. Aber es gehört zu meinem Stil, manchmal ‹out of the box› zu denken.» Er lobte weniger den Fahrer als sich selbst. Zu sehen ist die Szene in der Dokumentation «Breaking the Cycle». Nicht nur der dreifache Weltmeister Peter Sagan schaute leicht perplex. Palzer war ein Exot und wurde auch so behandelt.

Aus seiner Perspektive war das Ganze ein Vabanque-Spiel. Palzer war vorher dank persönlichen Sponsoren finanziell solide aufgestellt gewesen. Ein naheliegender Karrierehöhepunkt hätte zudem noch bevorgestanden: 2026 wird das Skibergsteigen Teil der Olympischen Winterspiele. Aber Palzer lockte das Ungewisse. Er wollte herausfinden, was ihm das Sportlerdasein noch bieten kann. Der Radsport war sein Weg, sein Streben nach Abenteuern auszuleben.

Nicht zu stürzen, war nicht seine einzige Sorge. «Ich hätte es mir leistungstechnisch einfacher vorgestellt», gibt er zu. Gleichzeitig staunte er über die Professionalität. Ernährungswissenschafter im Team zu haben, die präzise berechnen, wie viele Kohlenhydrate einzelne Fahrer je nach Rennverlauf benötigen – auch das war neu für Palzer, der in jungen Jahren noch eine Ausbildung zum Feinwerkmechaniker absolviert hatte und alleine mit dem Auto zu Wettkämpfen im Ausland fuhr.

«Der härteste Tag in meinem Leben»

Eine Schonfrist wurde ihm nicht zugestanden. An der Vuelta im Spätsommer 2021, auch das ist in «Breaking the Cycle» zu sehen, herrschte ihn ein Sportlicher Leiter im Teambus an: «Toni, wo warst du heute, wir haben dich gesucht.» Palzer hatte Helferdienste zu verrichten: Flaschen bringen, Lücken zufahren.

Auf der sechsten Etappe stürzte er. In den folgenden Tagen, an denen es bis zu 40 Grad heiss war, floss ihm der Schweiss in die Schürfwunden. Nachts schlief er schlecht, weil die Verletzungen bei jeder Drehung schmerzten. Auf dem neunten Teilstück wurde Palzer schon am ersten Anstieg abgehängt und kämpfte bis ins Ziel mit der Karenzzeit. Anschliessend stammelte er: «Heute war offiziell der härteste Tag in meinem Leben.» Er erlebte die grösste Eigenart des Radsports in voller Härte: Wenn es irgendwie geht, steigt man nicht aus. Auch am nächsten und am übernächsten Tag braucht es jemanden, der Flaschen bringt und Lücken zufährt.

Palzer schaffte die Vuelta. Er dürfte im modernen Radsport weltweit der einzige Fahrer sein, der nur fünf Monate nach seinem ersten Rennen eine dreiwöchige Rundfahrt beendet hat.

Leichter wurde sein Leben seither kaum. Auch 2025, nach der überstandenen Herzbeutel-Entzündung, bleibt ihm das Pech treu. An der UAE Tour im Februar war es so heiss, dass er nach der Rückkehr in den europäischen Winter prompt krank wurde. Beim Etappenrennen Tirreno–Adriatico im März musste er aufgeben. An der Tour of the Alps im April litt er im Dauerregen an Unterkühlung. Aber Palzer macht immer weiter. Er liebt es.

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