Freitag, Oktober 11

Die grossen Kostenunterschiede illustrieren das Kernmotiv der Abstimmungsvorlage zum Gesundheitswesen.

Im Abstimmungskampf um die Finanzierungsreform im Gesundheitswesen ist oft die Rede von Umverteilungen zwischen Prämienzahlern und Steuerzahlern. Der Haupttreiber der Reform war aber nicht die Verteilungsfrage, sondern der Wunsch nach Linderung eines teuren Fehlanreizes im System.

Die Kosten von ambulanten Eingriffen gemäss Krankenversicherungsgesetz gehen derzeit voll zulasten der obligatorischen Krankenversicherung (OKP) und damit ihrer Prämienzahler. Bei stationären Eingriffen (also wenn der Patient vor Ort übernachtet) zahlt die Krankenkasse nur 45 Prozent der Kosten; 55 Prozent gehen zulasten der Kantone und damit der Steuerzahler.

Für die Krankenkassen lohnen sich somit ambulante Eingriffe nur, wenn deren Kosten unter 45 Prozent der Gesamtkosten von stationären Eingriffen liegen. Die Reform vereinheitlicht nun die Kostenverteilung. Neu zahlen die Kantone (Steuerzahler) 26,9 Prozent und die Krankenkassen 73,1 Prozent – für ambulante Behandlungen, stationäre Eingriffe und die Pflege.

Das Gesamtbild zählt

Letztlich sind die Gesamtkosten entscheidend. Gemessen an diesen schneiden ambulante Behandlungen weit besser ab als stationäre Eingriffe. Das Potenzial für einen höheren Anteil von ambulanten Behandlungen in der Schweiz ist noch gross. Der Bund betont mit Verweis auf Daten des Ländervereins OECD, dass 2021 bei den erfassten Behandlungen der «Marktanteil» der ambulanten Eingriffe in der Schweiz nur bei 20 Prozent gelegen sei, während es diverse andere europäische Länder auf 30, 40 oder gar über 50 Prozent gebracht hätten.

Es geht nicht um Kleinkram. Hinweise liefert das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan). Dessen Website zeigt Kostendaten zu einigen Eingriffstypen, bei denen seit 2019 offiziell das Prinzip «ambulant vor stationär» gilt. Das heisst, die OKP zahlt nur noch ambulante Behandlungen – ausser es liegen besondere Umstände vor, wie zum Beispiel zusätzliche Erschwernisse beim Patienten. Das Innendepartement hat dieses Jahr die Liste der betroffenen Eingriffe erweitert; sie umfasst nun achtzehn Eingriffsgruppen.

Obsan-Daten zum Kostenvergleich liegen erst für sieben Eingriffe vor. Die ausgewiesenen Differenzen sind enorm. Ein Beispiel: Eine Arthroskopie des Kniegelenks kostete 2022 im Mittel rund 2100 Franken ambulant und 8100 Franken stationär. Die genannten Kosten sind laut Obsan vor allem für den ambulanten Bereich als Abschätzung einer groben Grössenordnung zu verstehen. Im Durchschnitt der sieben erfassten Eingriffe beträgt das Kostenverhältnis stationär/ambulant etwa 4:1 (vgl. Grafik). Die geschätzten Kosten entsprechen den Erträgen, welche die Spitäler für die Eingriffe erhielten.

Bei solchen Differenzen würden sich ambulante Eingriffe selbst aus Sicht der Krankenkassen schon heute lohnen. Die Kostendifferenzen der auf der Bundesliste erfassten Eingriffstypen mögen indes das Bild etwas verzerren. So könnten in den erfassten Fällen stationäre Eingriffe auch darum teurer gewesen sein, weil erschwerende Umstände vorlagen und deshalb das Prinzip «ambulant vor stationär» gebrochen wurde.

Eine Studie der Beratungsfirma PwC von 2016 listete dreizehn Eingriffe auf, bei denen die stationäre Behandlung im Mittel 2,3-mal so teuer war wie der ambulante Eingriff. Bei einer solchen Kostendifferenz haben die Krankenkassen noch keinen wesentlichen Anreiz zur Förderung von ambulanten Behandlungen.

Teurere Infrastruktur

Stationäre Behandlungen könnten je nach Eingriff 1,5-mal, zweimal oder auch dreimal so teuer sein wie ambulante Behandlungen, sagt Kristian Schneider, Direktor des Spitalzentrums Biel. Die Gründe für die viel höheren Kosten liegen bei weitem nicht nur in der Hotellerie, wie er deutlich macht: «Für stationäre Behandlungen braucht es eine grössere Infrastruktur, Betten, eine 24-Stunden-Betreuung, mehr und spezialisiertes Personal. Auch die Operationssäle sind viel teurer ausgestattet.»

Bei stationären Eingriffen verdient das Spital laut Schneider zurzeit «deutlich mehr», aber auch dort gebe es eine Unterfinanzierung. Laut dem Spitalverband H+ waren 2023 die spitalambulanten Leistungen im Mittel um etwa 28 Prozent unterfinanziert und die stationären Leistungen «nur» um 8 bis 9 Prozent.

Die Finanzierungsreform ändert direkt zunächst nichts daran, dass die Spitäler mit stationären Behandlungen mehr verdienen. Das räumt auch Kristian Schneider ein. Doch die Reform schaffe die Voraussetzung für eine Verstärkung des Trends Richtung ambulante Behandlungen. Die Finanzierungsreform sei der «erste Schritt» dazu. Der zweite Schritt folge mit der Einführung von ambulanten Fallpauschalen zusammen mit dem Wechsel vom ambulanten Arzttarif Tarmed zu Tardoc voraussichtlich auf Anfang 2026.

Anreize via Tarife

Der dritte Schritt wäre für Schneider dann die Diskussion über die ambulanten Tarife. Mit der vorliegenden Finanzierungsreform «haben die Krankenkassen mehr Anreiz, höhere ambulante Pauschalen zu akzeptieren und somit die kostengünstigere ambulante Behandlung zu fördern», betont der Spitaldirektor.

Die Krankenkassen mögen Hemmungen haben, so etwas schon im Voraus zu verkünden. Doch Pius Zängerle, Direktor des Krankenkassenverbands Curafutura, sagt es so: «Die Verhandlungssituation von allen Teilnehmern – Spitäler, Versicherer und Kantone – wird sich neu ausrichten. Damit wird die ambulante Versorgung gestärkt. Dies kann sich auch in einer Bereitschaft zur besseren Abgeltung niederschlagen.»

Ein anderer Krankenkassenvertreter hat es schon vor Jahren wie folgt gesagt: «Solange die Leistungen im ambulanten und stationären Bereich unterschiedlich finanziert werden, dürften es auch neue und innovative Entschädigungsmodelle und tarifarische Anreize schwer haben.» In die gleiche Kerbe schlägt auch Paul Sailer, Experte für das Gesundheitswesen bei der Beratungsfirma PwC: Die Finanzierungsreform sei «die Grundlage für die Tarifentwicklung. Dies stellt sicher, dass die Tarife künftig die Kostenrealität spiegeln.»

Der Spitaldirektor Schneider prognostiziert für das Reformszenario einschliesslich der Folgeschritte einen «Schub» für ambulante Eingriffe. Im Spitalzentrum Biel liessen sich laut Schneider schon kurzfristig «in fünf oder sechs Fachbereichen etwa 8 bis 12 Prozent» der stationären Hospitalisierungen vermeiden. Und: «Längerfristig wäre eine Reduktion um 20 Prozent möglich.»

Aussicht auf höhere Rabatte

Die Abstimmungsvorlage soll zudem alternative Versicherungsmodelle attraktiver machen. Derzeit sind laut Schätzungen erst etwa 20 bis 30 Prozent aller Versicherten in Modellen mit Versorgungssteuerung via Hausarzt und Budgetmitverantwortung der Ärzte versichert.

Zu den Pionieren solcher Modelle zählt der Zürcher Arzt Felix Huber, Präsident von Medix Schweiz, eines Zusammenschlusses von zehn regionalen Ärztenetzwerken. Die Reform ermöglicht laut Huber «die stärkere Unterscheidung zwischen guten und schlechten Versicherungsmodellen, da die guten Modelle künftig die vollen Einsparungen an die Versicherten weitergeben können. Dadurch wird ein Rabatt von bis zu 25 Prozent statt 20 Prozent möglich.»

Die Hausärzte in den Medix-Modellen haben gemäss Huber keine finanziellen Verlustrisiken, doch bei Erreichen der Kosten- und Qualitätsziele sei eine Zusatzvergütung für die Ärzte von bis zu 10 Prozent möglich. Zurzeit offerieren Medix-Modelle Rabatte von je nach Versicherung 14 bis 20 Prozent, wie Huber sagt. Als Quellen für die Einsparungen nennt er die Vermeidung von überflüssigen Untersuchungen, den starken Fokus auf Generika bei Medikamenten – und die Reduktion der stationären Eingriffe um etwa 10 Prozent.

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