Der deutsche Kanzler geht am ersten Tag nach seinem turbulenten Amtsantritt auf Reisen. In Frankreich und Polen begrüsst man, dass wieder ein überzeugter Europäer im Kanzleramt sitzt. Aber er muss auch einige Fehler seines Vorgängers revidieren.
Am Ende der ersten gemeinsamen Pressekonferenz klopfte der französische Präsident Emmanuel Macron dem neuen deutschen Kanzler Friedrich Merz auf die Schulter. Feuertaufe überstanden, sollte das wohl heissen.
Seine erste Auslandsreise führte Merz am Mittwoch, einen Tag nach seinem turbulenten Amtsantritt, nach Paris, wie es für neue deutsche Kanzler üblich ist. Macron äusserte dabei die Hoffnung, dass mit Merz – den er «cher Friedrich» nannte – wieder «neuer Schwung» in die deutsch-französischen Beziehungen komme. Merz wiederum sprach von einem «Neustart». Was bei diesen Äusserungen unausgesprochen im Raum stand: Der vorherige Kanzler Olaf Scholz hat die Beziehungen in einem desolaten Zustand an seinen Nachfolger übergeben.
Merz werden die Vorschusslorbeeren gefallen haben. Er zog nach dem gemeinsamen Mittagessen weiter gen Warschau. Damit wollte er gleich zu Beginn seiner Amtszeit ein Zeichen setzen. Er will die «europapolitische Sprachlosigkeit» der Vorgängerregierung überwinden. Die Wiederbelebung des sogenannten Weimarer Dreiecks mit Frankreich und Polen ist eines seiner grössten aussenpolitischen Ziele. «Mir liegen diese beiden Länder sehr am Herzen», sagte er am Mittwoch.
Die Antwort auf Trump liegt für Merz in Europa
Europa ist für Merz zum einen aus ideellen Gründen wichtig. Von 1989 bis 1994 sass er für die Europäische Volkspartei (EVP) im EU-Parlament. Im Wahlkampf kam er immer wieder auf diese Zeit zu sprechen. Sie habe aus ihm einen überzeugten Europäer gemacht.
Zum anderen ist Europa für ihn aber auch aus geopolitischer Notwendigkeit wichtig. Merz ist zwar überzeugter Transatlantiker, und seine Partei verfügt über gute Kontakte ins Lager des amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Er hat jedoch in den vergangenen Monaten immer wieder betont, dass die USA als Partner an Verlässlichkeit verloren haben.
Im Wahlkampf schärfte er den Deutschen daher ein, dass sie sich nicht darauf verlassen könnten, dass andere – sprich die USA – ihre Probleme lösten. Die Antwort darauf sieht er in Europa. Wenn sich die Amerikaner abwenden, müssen die Europäer enger zusammenrücken, lautet seine Devise. «Das ist die Stunde der Europäischen Union», sagte er vor einigen Tagen am Parteitag der EVP in Valencia.
Merz beansprucht dabei für sich selbst eine Führungsrolle. Er will der Europa-Kanzler werden. Derzeit ist er davon jedoch weit entfernt. Deutschland hat in den vergangenen Jahren in Europa an Vertrauen eingebüsst.
In Brüssel ist in dieser Zeit der Begriff «German vote» zu einem geflügelten Wort geworden. Er bezeichnet die deutsche Eigenart, bei den mühsam auf EU-Ebene verhandelten Kompromissen in letzter Minute noch auszuscheren. So geschehen etwa beim Verbrenner-Aus oder beim Lieferkettengesetz.
Die offen ausgetragenen Differenzen in der Aussenpolitik zwischen dem damaligen deutschen Kanzler Olaf Scholz und der Aussenministerin Annalena Baerbock, etwa zu den Ukraine-Hilfen oder dem Umgang mit China, taten ihr Übriges. Bei den anderen Europäern setzte sich der Eindruck fest, dass auf Deutschland kein Verlass sei.
Die Erwartungen in Frankreich und Polen sind hoch
In Polen und Frankreich hat man daher in den vergangenen Monaten genau hingehört, wenn Merz wieder einmal vom Weimarer Dreieck schwärmte. Dass der neue deutsche Kanzler Europa zur Chefsache machen will, wurde dort begrüsst. Man setzt hohe Erwartungen in ihn. Deutschland soll wieder eine Führungsrolle übernehmen.
Ganz besonders gilt das für den Krieg in der Ukraine. Der polnische Aussenminister Radoslaw Sikorski machte etwa kürzlich in einer Grundsatzrede im polnischen Parlament deutlich, dass er von Deutschland mehr Rüstungsinvestitionen erwarte: «Solange Deutschland Mitglied von EU und Nato ist, habe ich mehr Angst vor einer deutschen Aversion gegen Aufrüstung als vor der deutschen Armee.»
Es ist jedoch nicht so, dass man in Paris und Warschau auf Merz gewartet hätte. Während französische und polnische Initiativen in den Scholz-Jahren an Deutschland abperlten und schliesslich versickerten, haben sich Paris und Warschau auch ohne deutsches Zutun einander angenähert. Das gilt insbesondere für die Verteidigung. Am kommenden Freitag wollen die beiden Staaten ein gemeinsames Sicherheitsabkommen unterzeichnen.
Laut dem Europa-Experten Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin geniesst Merz in der Sicherheitspolitik einen Vertrauensvorschuss. «In Polen erwartet man, dass Deutschland mehr Führungsverantwortung übernimmt, aber nicht unilateral», sagt er. Man wolle auch schon selbst mitreden dürfen.
Merz hat sein Kabinett auf Europa ausgerichtet
Am Mittwoch sah es fürs Erste so aus, als ob Merz dieser Spagat gelingt. In Paris herrschte zwischen ihm und Macron eine fast schon freundschaftliche Stimmung. Als erste öffentlichkeitswirksame Massnahme wollen Merz und Macron den Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat wiederbeleben – eine Massnahme also, die sicherstellt, dass Deutschland und Frankreich in Verteidigungsfragen auf Augenhöhe agieren.
Auch in der Aufstellung seines Kabinetts scheint Merz aus den Fehlern der Vorgängerregierung gelernt zu haben. Zum ersten Mal seit fast sechs Jahrzehnten stellt die Kanzlerpartei auch den Aussenminister. Merz’ Parteikollege Johann Wadephul wird das Amt innehaben. Er versprach bereits eine Aussenpolitik «aus einem Guss». Und auch ins Kanzleramt hat sich Merz aussen- und europapolitisch versierte Berater geholt.
Ausserdem hat er noch vor seiner Wahl zum Kanzler erwirkt, dass künftig Verteidigungsausgaben von der Schuldenbremse ausgenommen werden. Der ewige Streit in Deutschland um die Prioritätensetzung bei den Finanzen dürfte damit erst einmal beigelegt sein. Merz kann grosse Investitionen in der Verteidigung tätigen, ohne an anderer Stelle sparen zu müssen.
Merz muss sich noch beweisen
Trotzdem ist auch nach der Shuttle-Diplomatie vom Mittwoch noch nicht ausgemacht, dass es Merz gelingen wird, Deutschland als Führungsnation in Europa zu verankern. Merz ist mit einem Makel nach Paris und Warschau gereist. Als erster Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik wurde er erst im zweiten Wahlgang im Deutschen Bundestag gewählt.
Der Vorgang und insbesondere das anschliessende Chaos innerhalb der Regierungsfraktionen haben gezeigt, dass die von Merz geschmiedete Koalition weniger stabil ist als erhofft. Es ist denkbar, dass Merz wie schon sein Vorgänger von innenpolitischen Krisen in Berlin absorbiert werden könnte. Dann dürfte die Aussenpolitik nicht mehr seine grösste Priorität sein.
Zudem sind die aussenpolitischen Beharrungskräfte bei seinem Koalitionspartner stark. Die grossen Zauderer bei den Ukraine-Hilfen um Scholz sind in die zweite Reihe zurückgetreten. Laute Unterstützer des angegriffenen Landes haben hingegen parteiintern an Macht gewonnen, allen voran der neue Finanzminister Lars Klingbeil und der Verteidigungsminister Boris Pistorius. Doch auch sie konnten nicht verhindern, dass Merz’ Ziele für die Ukraine im Koalitionsvertrag weichgespült wurden. Bei den traditionell friedensbewegten Sozialdemokraten gibt es viele, die etwa die Lieferung deutscher Taurus-Marschflugkörper oder gar deutsche Truppen zur Sicherung eines möglichen Friedens in der Ukraine kritisch sehen.
Schliesslich ist Merz in einigen Fragen auch auf den guten Willen seiner europäischen Partner angewiesen, nicht zuletzt Frankreichs und Polens. In der Migrationspolitik verfolgt er etwa Ziele, die Konfliktpotenzial bergen. Besonders in Polen sieht man die Idee, alle illegal einwandernden Migranten an der Grenze zurückzuweisen, kritisch. Für Tusk, der sich gerade im Wahlkampf befindet, kommt das Vorhaben zur Unzeit. In Frankreich und Polen würde man demnächst gerne über die Finanzierung der europäischen Aufrüstung sprechen. Macron und Tusk wollen dafür gemeinsame Schulden aufnehmen. Merz lehnt das – wie sein Vorgänger – bislang ab. Wenn in Paris und Warschau die erste Euphorie über den passionierten Europäer im deutschen Kanzleramt abgeebbt ist, wird Merz sein Verhandlungsgeschick in diesen Fragen beweisen müssen.