Unser Leser hört ständig von der gesundheitsfördernden Wirkung von Essig. Forscher haben Hinweise auf positive Effekte gefunden, doch viele Fragen sind noch offen.

Leserfrage: Ist es gesund, täglich etwas Apfelessig zu trinken? Hilft das tatsächlich gegen Entzündungskrankheiten wie Arthritis und beim Abnehmen?

Essig ist ein Allzweckmittel. In der Küche wird er für Salatsaucen und zum Einlegen verwendet, beim Putzen dient er als Kalklöser, und in der Waschküche wird er gegen Flecken empfohlen. Gesund soll er obendrein sein.

Wohl & Sein antwortet

In der Rubrik «Wohl & Sein antwortet» greifen wir Fragen aus der Leserschaft rund um Gesundheit und Ernährung auf. Schreiben Sie uns an wohlundsein@nzz.ch.

Im Internet gibt es einen regelrechten Essig-Hype – Essig soll unter anderem entzündungshemmend wirken und sowohl Mikrobiom als auch Immunsystem stärken. Dazu genüge es, täglich etwas Essig in einem Glas Wasser verdünnt zu trinken.

Dünn gesäte Studien

Oft ist dabei von Apfelessig die Rede. Auch in Studien wird meist diese Form von Essig untersucht. Allerdings ist es mit den Studien so eine Sache: Es gibt nur wenige aussagekräftige Untersuchungen zur Wirkung von Essig – oft sind es Labor- oder Tierstudien, oder sie beinhalten nur eine geringe Anzahl Versuchspersonen. Insofern ist die wissenschaftliche Evidenz beschränkt.

Gemäss Philipp Schütz, Chefarzt Endokrinologie, Diabetes und Metabolismus am Kantonsspital Aarau und Präsident der Eidgenössischen Ernährungskommission, gibt es bis jetzt vor allem einen nachgewiesenen Effekt: «Es gibt Hinweise, dass Essig die Insulinsensitivität verbessern kann.»

Das bedeutet: Nach einem Glas Essigwasser reagieren wir stärker auf das körpereigene Insulin. Entsprechend schüttet unser Körper weniger davon aus, um den Zuckerspiegel im Blut nach dem Essen auszugleichen.

Das ist gesundheitlich interessant, denn: Je weniger Insulin der Körper ausschütten muss, desto geringer ist die Gefahr, langfristig an Diabetes zu erkranken. In derselben Studie zeigte der Essig zudem die Wirkung, den Blutzuckerspiegel zu senken – aber nur bei Personen, die bereits erhöhte Werte hatten und in Gefahr waren, Diabetes zu entwickeln. Aber: «Der Effekt von Essig war in der Studie nicht sehr stark», sagt Schütz.

Trotzdem: Insbesondere für Menschen mit erhöhten Blutzucker- und Insulinwerten sowie mit Diabetes seien die Resultate ein Hinweis, dass Essig ein Teil der Prävention oder Behandlung sein könne. Wobei Diabetiker ärztliche Rücksprache halten sollten.

Ein Puzzlestein von vielen

«Essig ist höchstens ein Baustein von vielen für eine gesunde Ernährung», sagt Schütz. «Wichtiger ist, sich insgesamt gesund zu ernähren, allfälliges Übergewicht zu reduzieren und sich genügend zu bewegen.» All dies könne einem der Essig nicht abnehmen.

Apropos Abnehmen: In einer libanesischen Studie half Essig Übergewichtigen, Kilos zu verlieren. «Es gibt zudem aus anderen Studien Hinweise, dass Essig beim Abnehmen die Wirkung einer Diät verstärken kann», sagt Schütz. Allerdings sei dazu nicht unbedingt Essig nötig: «Auch ein simples Glas Wasser kann beim Abnehmen helfen, weil es ein vermehrtes Sättigungsgefühl bewirkt», sagt Schütz.

Wie die gesundheitliche Wirkung von Essig zustande kommt, dazu gibt es bis jetzt nur Hypothesen. Möglich wäre, dass nach dem Trinken von Essig vor einer Mahlzeit weniger Glukose vom Darm ins Blut gelangt und die Muskeln die Glukose zudem vermehrt aufnehmen – auch dadurch sinkt der Zuckerspiegel im Blut.

Auch die Inhaltsstoffe von Essig, die für den Effekt verantwortlich sind, kennt man bislang nicht. Apfelessig enthält neben Essigsäure einen hohen Anteil weiterer gesunder Nährstoffe – etwa sogenannte sekundäre Pflanzenstoffe wie Flavonoide. Sind es vielleicht eher diese als die Essigsäure, die den Effekt auf den Blutzucker und das Insulin ausmachen? Und wie sieht es bei anderen Sorten als Apfelessig aus? All dies ist noch kaum erforscht. Was hingegen klar ist: Wird das Essigwasser mit Honig gemischt, um den sauren Geschmack zu kaschieren, ist der Effekt der verbesserten Insulinsensitivität dahin.

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Die Zähne und den Magen schonen

Ebenfalls nicht empfehlenswert ist es, Essig unverdünnt zu trinken. Sonst besteht die Gefahr, dass die Essigsäure die Schleimhäute im Verdauungstrakt und den Zahnschmelz angreift. Wer Essigwasser testen will, dem empfiehlt Philipp Schütz deshalb, mit kleinen Dosen zu beginnen – auch um die Magenverträglichkeit zu testen.

Fazit: Die Wirkung von Essig ist wissenschaftlich noch wenig nachgewiesen. Ob Essig gegen Entzündungen wirkt und das Mikrobiom und Immunsystem stärkt, bleibt Spekulation. Aber ein Glas Essigwasser kostet fast nichts, die Anwendung ist einfach, und es drohen kaum Nebenwirkungen. Daher darf man wohl in diesem Fall getrost sagen: Ausprobieren kann sich lohnen. Als Teil einer gesunden Ernährung bietet sich Essig grundsätzlich an – etwa in der Salatsauce. Denn wer einen Salat isst, tut seiner Gesundheit ohnehin etwas Gutes.

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