Mittwoch, Oktober 30

Erstmals seit bald 50 Jahren macht die amerikanische Zeitung, die mit ihrer Berichterstattung zum Watergate-Skandal einen US-Präsidenten gestürzt hat, keine Empfehlung für die kommende US-Wahl.

Die Entscheidung der «Washington Post», ihre Unterstützung für Kamala Harris zurückzuziehen und keinen Kandidaten für die kommende US-Wahl zu empfehlen, wirkt auf den ersten Blick wie eine späte Rückbesinnung auf die journalistische Unabhängigkeit. Man möchte applaudieren. Endlich einmal ein grosses amerikanisches Medium ohne politische Parteinahme, kein parteiischer Fingerzeig, keine immer stärkere Polarisierung, sondern ein Rückzug auf die Position des nüchternen Berichterstatters.

In den USA ist es Tradition, dass grosse Zeitungen vor Wahlen offen ihre Unterstützung für einen Kandidaten aussprechen. Diese Praxis wirkt aus europäischer Sicht oft befremdlich, da sie einer neutralen Berichterstattung widerspricht.

In der Schweiz oder Deutschland etwa werden Wahlempfehlungen selten gegeben. Sie bleiben meist in Kommentaren einzelner Autorinnen und Autoren verankert, ohne dass die Redaktion offiziell eine Wahlempfehlung ausspricht. Die NZZ beispielsweise gibt zwar regelmässig Empfehlungen zu Sachthemen, gerade bei eidgenössischen Abstimmungen, doch eine direkte Unterstützung eines bestimmten Politikers ist höchst ungewöhnlich.

Wäre da nur nicht der Zeitpunkt des Entzugs der Unterstützung von Harris.

Was führte zum Sinneswandel?

Denn gerade die «Washington Post» hat in den vergangenen Monaten nicht davon abgelassen, zu betonen, für wie ungeeignet sie Donald Trump für das Amt des Präsidenten hält. Unzählige Artikel und Meinungsstücke sprachen sich teils direkt, teils indirekt gegen Trump aus und wiesen auf seine politischen Fehltritte und moralischen Verfehlungen hin. Nun aber zieht das Blatt plötzlich jegliche Unterstützung für die Alternative zurück.

Was könnte zu diesem Sinneswandel geführt haben? Strebt die Redaktion wirklich eine neutralere Berichterstattung an, oder liegt die Entscheidung ausserhalb ihrer Kontrolle?

Die Eigentümerstruktur der «Washington Post» spielt in diesem Fall wohl die entscheidende Rolle. Seit der Übernahme durch Jeff Bezos, den Gründer von Amazon und einen der reichsten Menschen der Welt, gab es immer wieder Spekulationen darüber, inwieweit der Einfluss des Multimilliardärs den redaktionellen Kurs des Blattes prägt. Und Bezos ist ein pragmatischer Geschäftsmann, der sich sowohl politisch als auch ökonomisch opportunistisch verhält.

Angriffe von Trump auf Bezos

So hat Trump Bezos und den Online-Detailhändler Amazon in seiner ersten Amtszeit immer wieder ins Visier genommen. Etwa mit der Behauptung, dass die US-Post bei jeder Amazon-Paketlieferung 1 Dollar 50 Verlust mache. Bezos besitzt neben Amazon auch das Unternehmen Blue Origin, ein Raumfahrtunternehmen. Und hier steht er in direkter Konkurrenz zu Elon Musk. Beide sind sie von staatlichen Subventionen abhängig, um ihre Raketen weiterzuentwickeln.

Aus Sicht des Geschäftsmanns Bezos ist es deshalb durchaus sinnvoll, sich mit der Möglichkeit einer weiteren Amtszeit Trumps auseinanderzusetzen und sich darauf vorzubereiten – zumindest als Chef von Amazon und Blue Origin. Gewinnt Trump am 5. November die Wahl, gäbe es aktuell keine Diskussion darüber, wen Trump eher geneigt wäre zu unterstützen. Trump und Musk waren in den vergangenen Wochen wie Pech und Schwefel, kaum voneinander zu trennen.

Als Besitzer schadet Bezos mit dem Entscheid der Zeitung

Doch als Besitzer einer Zeitung muss sich Bezos den Vorwurf gefallen lassen, dass er mit dem Entzug der Unterstützung für Harris der Marke «Washington Post» nachhaltig schaden könnte. Ausgerechnet jetzt, wo jede Entscheidung und jede Berichterstattung unter besonderer Beobachtung steht, wirft das einen Schatten auf die Rolle der «Washington Post» als unabhängige Instanz. Der abrupt verkündete Rückzug von einer früheren Empfehlung weckt Zweifel daran, wie unabhängig diese Entscheidung wirklich war. Denn selbst wenn Bezos keinen direkten Einfluss genommen hat, bleibt die Frage: Warum jetzt und nicht schon zu Beginn des Wahlkampfes? Das journalistische Neutralitätsargument wirkt kurz vor der Wahlnacht konstruiert und aufgesetzt.

Kommt noch dazu, dass sich die «Washington Post» in durchaus pathetischer Manier den Leitspruch auf die Fahne geschrieben hat: «Democracy Dies in Darkness», die Demokratie stirbt im Dunkeln. Und die journalistische Unabhängigkeit? Sie scheint am helllichten Tage dahinzusiechen. Hier findet ein Abwägen zwischen journalistischen Idealen und ökonomischen Interessen statt. Und das ist für eine Zeitung ein unmöglicher Spagat. Denn was haben Zeitungen ausser das Vertrauen ihrer Leserschaft? Es ist die einzige Währung, in der sie handeln können.

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