Sonntag, Oktober 6

Im britischen Kabinett von Premierminister Keir Starmer sitzen etliche Ministerinnen und Minister mit untypischen Politiker-Biografien.

Die Bilder der ersten Kabinettssitzung unter Labour-Premierminister Keir Starmer vom Wochenende machten deutlich, dass in Grossbritannien nach vierzehn Jahren konservativer Regierung eine neue politische Klasse an die Macht gekommen ist. Unter Boris Johnson, Liz Truss und Rishi Sunak hatten zwei Drittel der Regierungsmitglieder in ihrer Jugend eine elitäre Privatschule besucht. In Starmers Team machen die Privatschul-Abgänger nur noch vier Prozent aller Minister aus – was dem mit Abstand tiefsten Wert in der britischen Geschichte entspricht. Nachfolgend ein Blick auf vier Schlüsselfiguren in Starmers Kabinett, welche die Politik der neuen britischen Regierung prägen werden.

Angela Rayner, die Stellvertreterin

Kaum eine Politikerin symbolisiert den sozialen Wandel an der Regierungsspitze stärker als Angela Rayner. Die 44-Jährige wuchs in einer Sozialsiedlung in Liverpool auf, wo sie im Alter von 16 Jahren schwanger wurde und die Schule abbrach. Sie begann als Altenpflegerin zu arbeiten. Die schlechten Arbeitsbedingungen motivierten sie zum Beitritt in eine Gewerkschaft und später zum Einstieg in die Politik.

Rayner ist nicht nur Vizepremierministerin und Starmers Stellvertreterin im Kabinett. Vielmehr ist sie auch für den Wohnungsbau zuständig. Der Mangel an erschwinglichen Miet- und Eigentumswohnungen gehört zu den wichtigsten Sorgen der jüngeren Britinnen und Briten. Labour will das bürokratische Planungswesen einer radikalen Reform unterziehen und etwa die Einsprachemöglichkeiten gegen Neubauten einschränken.

Als Vizepräsidentin der Partei wurde Rayner direkt von den Labour-Delegierten gewählt, weshalb sie über eine eigene Machtbasis verfügt. Rayner wird dem linken Parteiflügel zugerechnet, hat sich aber geschickt mit dem Übergang vom altlinken Labour-Chef Jeremy Corbyn zum Zentristen Starmer arrangiert.

Mit ihrem gradlinigen und konfrontativen Stil und ihrem ausgeprägten nordenglischen Akzent spricht Rayner Wählerschichten an, die der spröde Starmer weniger leicht erreicht. Für viele Konservative stellt die rothaarige Feministin auch ein Feindbild dar – und mitunter eine Zielscheibe für Angriffe unter der Gürtellinie. So warfen ihr Tory-Abgeordnete vor zwei Jahren vor, sie habe den damaligen Premierminister Boris Johnson im Unterhaus mit aufreizendem Verhalten aus dem Konzept bringen wollen.

David Lammy, Aussenminister

Auch David Lammys Weg ins politische Machtzentrum in Westminster war nicht vorgezeichnet. Der heute 51-Jährige wuchs im Londoner Arbeiterquartier Tottenham in einer aus Guyana stammenden Familie auf. Der alkoholkranke Vater verliess die Familie, als David Lammy zwölf Jahre alt war. Er erhielt ein Stipendium als Chorknabe, was ihm den Besuch einer renommierten anglikanischen Schule ermöglichte. Später studierte er in London Jura und absolvierte als erster dunkelhäutiger Brite überhaupt in Harvard einen Master in Rechtswissenschaften.

Seit mehr als zwanzig Jahren vertritt Lammy im Unterhaus den Wahlkreis Tottenham, in dem ein Fünftel der Bevölkerung karibischer Abstammung ist und in dem auch viele muslimische und jüdische Briten leben. Lammy ist ein talentierter Rhetoriker, der auch im persönlichen Austausch gewinnend wirkt.

2021 berief ihn Starmer zum Schattenaussenminister. Dort prägte er die etwas vage Doktrin des Progressiven Realismus. Sie besagt, dass Grossbritannien seine geopolitische Bedeutung nicht nostalgisch überhöht, aber seinen noch immer vorhandenen Einfluss für hehre Ziele wie die Förderung der Demokratie oder die Bekämpfung des Klimawandels einsetzt.

Lammy ist mit Barack Obama befreundet. 2018 bezeichnete er Donald Trump als «Frauenhasser, Neo-Nazi-Sympathisant und Soziopath», was Befürchtungen nährt, dies könnte die Beziehungen zu Washington im Fall eines Wahlsiegs von Trump belasten. Nun beteuert er, die Labour-Regierung werde mit allen Partnern zusammenarbeiten. Laut britischen Diplomaten hat er bei Reisen nach Washington einen guten Draht zu republikanischen Abgeordneten gefunden.

Wes Streeting, Gesundheitsminister

Nimmt man seine Familiengeschichte zum Nennwert, wäre die Chance grösser gewesen, dass Wes Streeting im Gefängnis landet statt auf einem Kabinettsposten. Sein Grossvater verkehrte mit den legendären Kray-Zwillingen, die in den Nachkriegsjahren als Mafiosi im Londoner Eastend ihr Unwesen trieben. Streetings Grosseltern sassen wegen Raubüberfällen hinter Gittern. Seine Eltern waren Teenager, als Streeting auf die Welt kam. Mit seinen sieben Geschwistern wuchs er in einer Sozialwohnung in ärmlichen Verhältnissen in Ostlondon auf.

Dank einem Stipendium studierte Streeting in Cambridge, wo er er zum Präsidenten der nationalen Studentenorganisation aufstieg. Er vertritt seit 2015 einen Londoner Wahlkreis mit hohem muslimischem Bevölkerungsanteil. Am Donnerstag hätte er wegen des Unmuts vieler muslimischer Wähler über den proisraelischem Labour-Kurs im Gaza-Krieg beinahe die Wiederwahl verpasst. Der 41-Jährige lebt mit seinem Partner zusammen, er gilt als pragmatisch, direkt und unideologisch – und er ist der wohl beste und charismatischste Kommunikator in Starmers Kabinett.

Als Gesundheitsminister steht er nun in der Verantwortung, die Wartelisten für medizinische Behandlungen abzubauen. Bei seiner Amtsübernahme erklärte er den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) schonungslos für «kaputt». Er hatte im Wahlkampf bereits gesagt, der staatliche NHS müsse mit privaten Anbietern zusammenarbeiten, um die Engpässe abzubauen, das weckte in linken Kreisen Ängste vor einer Privatisierung. Abzuwarten bleibt, ob Streeting und die Labour-Regierung die Kraft für eine tiefgreifende Reformen des maroden Gesundheitswesen aufbringen.

Rachel Reeves, Schatzkanzlerin

Auch Rachel Reeves entstammt nicht den klassischen britischen Eliten. Doch spiegelt ihre Biografie auch keine typische Labour-Karriere. Die heute 45-Jährige wuchs in Lewisham im Südosten Londons als Tochter eines Lehrerpaars auf. In der Schule fiel rasch ihre mathematische Begabung auf, weshalb ihr ein Lehrer empfahl, eine Karriere als Versicherungsmathematikerin anzustreben. Reeves Leidenschaft galt dem Schachspiel: Sie wurde britische U-14-Schachmeisterin und spricht bis heute über ihre Genugtuung, wenn sie Mädchen aus teuren Eliteschulen schachmatt setzen konnte.

Reeves erhielt ein Stipendium der Universität Oxford und heuerte nach einem Master in Wirtschaftswissenschaften an der London School of Economics bei der Bank of England an. Dort analysierte sie unter anderem die Geldpolitik Japans. Sie arbeitete auch für die Britische Botschaft in Washington sowie im Retailgeschäft der Halifax Bank of Scotland in der nordenglischen Stadt Leeds. Seit 2010 vertritt sie einen Wahlkreis von Leeds im britischen Unterhaus.

Nun ist Reeves zur Schatzkanzlerin und ersten Frau an der Spitze des einflussreichen Finanzministeriums avanciert. Die Ökonomin politisiert am rechten Rand der Labour-Partei und sorgte in der Vergangenheit etwa mit der Aussage für Furore, Labour müsse in den Bemühungen zur Reduktion der Sozialausgaben strenger sein als die Konservativen.

Reeves hat in den vergangenen Monaten offensiv um die Gunst der britischen Wirtschaftsvertreter gebuhlt. Sie gilt als Hirn der Regierung Starmer und ist mitverantwortlich für den vorsichtigen Kurs, gemäss dem Labour im Wahlkampf keine ungedeckten finanziellen Versprechen machte. Abzuwarten bleibt, ob und wie Reeves den sehr engen finanziellen Spielraum der neuen Regierung vergrössern kann. Als Schachspielerin, so sagte sie einmal, plane sie immer mehrere Züge voraus.

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