Dienstag, April 1

Es gelingt der Opposition um die einst mächtigen Peronisten weiterhin nicht, die Strasse gegen den argentinischen Präsidenten zu mobilisieren. Auch im Kongress ist Milei nicht zu bremsen.

«Verteidige die Rentner, denn eines Tages wirst auch du einer sein», ist auf Protestbannern vor dem Nationalkongress zu lesen. Gewerkschaften, Sozialverbände und Organisationen der linken Opposition hatten aufgerufen, Solidarität mit den Rentnern zu zeigen, die dort seit mehr als einem Jahr jeden Mittwoch gegen die Sparpolitik des libertären Präsidenten Javier Milei demonstrieren. Bis anhin war das meist nur eine kleine Gruppe von Rentnern, ohne grosse Schlagzeilen zu machen.

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Doch am 12. März erschienen Hunderte von Fussballfans, um – wie sie sagten – die Rentner zu schützen. Es kam zu einer Strassenschlacht mit der Polizei mit über hundert Verhaftungen und ebenso vielen Verletzten, unter ihnen ein Polizist. Ein Fotograf wurde durch eine Tränengasgranate lebensgefährlich verletzt, was in sozialen Netzwerken Entrüstung und Anschuldigungen gegen die Polizei auslöste.

Die Opposition, der es bis anhin nicht gelungen war, Massenproteste gegen Mileis Regierung zu mobilisieren, hoffte angesichts der brutalen Bilder von den Ausschreitungen auf ein Momentum. Tatsächlich kamen zu dem Protest am Mittwoch neben Gewerkschaftern auch Jugendliche, um gegen die Polizeigewalt zu demonstrieren. Die wenigen Rentner gingen dabei in der Menge verloren. Es handle sich um keine legitime Rentnerdemonstration, argumentierte ein Passant, da die meisten der Protestierenden keine Rentner seien. Man protestiere, um die Rentner zu unterstützen, wurde ihm geantwortet.

Lebensmittelpreise steigen mehr als die offizielle Inflationsrate

Im Dezember 2023 war Javier Milei mit dem Versprechen eines radikalen Sparkurses angetreten. «No hay plata», die Kassen seien leer, sagte er angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage bei seinem Amtsantritt. Um die Inflation, die in den ersten zwei Monaten seiner Regierung einen monatlichen Anstieg von über 20 Prozent erreichte, zu drücken, passte die Regierung die Renten nur teilweise der Geldentwertung an.

Doch mittlerweile hat Milei die Inflation auf zuletzt monatlich rund 2 Prozent gedrückt, während die Renten die Verluste von 2024 zum Teil wettgemacht haben. Derzeit liegt die Mindestrente, die rund 70 Prozent aller Rentner erhalten, inflationsbereinigt noch 4,3 Prozent unter dem Niveau, das bei Mileis Amtsantritt herrschte. Genau wie damals lebt derzeit etwa jeder fünfte Rentner in Armut, ergab eine aktuelle Studie.

Dass die Inflation sinke, würden sie nicht spüren, erklären Rentner an der Protestkundgebung. Sie verweisen auf die Lebensmittelpreise, die deutlich mehr als die offizielle Inflationsrate steigen. Alleine in der dritten Märzwoche stiegen die Lebensmittelpreise im Durchschnitt um 2,4 Prozent – Fleisch gar um 3,5 Prozent und Eier und Milchprodukte um 2,5 Prozent, wie eine Untersuchung der Consulting-Firma LCG ergab.

Die hohen Lebensmittelpreise machen der ehemaligen Lehrerin Alicia Morisio Sorge. Sie nimmt an den Protesten seit Beginn teil. Ihre Rente habe früher immer ausgereicht, zumal sie in einer eigenen Wohnung lebe, sagt die 73-Jährige. Doch sie schätzt, dass ihre Rente seit Mileis Amtsantritt rund 20 Prozent an Kaufkraft verloren hat. Besonders stark betroffen seien sie von Mileis Kürzung der Subventionen für Medikamente, Gas, Wasser und Strom. Für diese Leistungen müssten sie nun bis zu zehnmal so viel bezahlen wie zuvor.

Auch Morisios Jugendfreundin Ana Maria Rubiolo nimmt an den Rentnerprotesten teil. Ihre Situation ist noch schwieriger, denn sie muss Miete bezahlen. Da die Mindestrente von umgerechnet 330 Dollar nicht ausreiche, sei sie mit 73 gezwungen, weiter zu arbeiten, sagt die Psychologin.

Rentensystem ist defizitär

Ihre Rente erhält Rubiolo dank der linkspopulistischen Regierung des Peronisten Nestor Kirchner (2003–2007). Diese führte Ausnahmeregelungen, sogenannte Moratorias, ein. Denn Rubiolo hatte nur 15 Jahre in das staatliche Rentensystem eingezahlt, nur die Hälfte der Mindestbeitragszeit.

Ihr Fall steht für viele. 67 Prozent der 6,8 Millionen Renten werden heute aufgrund der Moratorias ausgezahlt, also ohne dass die Empfänger die Mindestkriterien erfüllt hatten. Dadurch ist das System chronisch defizitär. Viele Argentinier arbeiten informell, nur vergleichsweise wenige zahlen in die Sozialsysteme ein. Auf jeden Rentenempfänger kommen nur 1,6 Beitragszahler. Nachhaltig wäre ein Verhältnis ab 4 zu 1.

Zum Stichtag 23. März hat die Regierung Milei nun die Moratorias beendet. Wer nicht 30 Jahre lang Beiträge einbezahlt hat, kann ab sofort keine Rente mehr beantragen. Experten glauben, dass zukünftig nur 10 Prozent der Frauen und 30 Prozent der Männer überhaupt eine Rente zugesprochen erhalten werden.

Carlos Nabais begrüsst hingegen die Massnahme. Die Peronisten hätten die Rentenkassen stets für politische Zwecke missbraucht, sagt der Rentner. Deshalb nehme er auch nicht an dem Protest teil. Dieser sei politisch motiviert.

Seit seinem 18. Lebensjahr habe er seine Rentenbeiträge einbezahlt, bekomme aber trotzdem nur die Mindestrente, die nicht ausreiche. So arbeitet er auch mit 75 weiter. Und muss weiter Beiträge bezahlen, ohne dass seine Rente dadurch steigt.

Dagegen klagt er. Vor Gericht könne er 30 Prozent mehr Rente erstreiten, sagte ihm sein Anwalt. Allerdings liege die Klage nun schon seit vier Jahren beim Gericht, ohne dass etwas passiere. Milei müsse noch vieles in Argentinien ändern, meint Nabais.

Peronistische Sozialhilfe-Vermittler sind kaltgestellt

Dass an diesem Mittwoch weniger Demonstranten vor den Kongress gekommen seien als von der Opposition erhofft, liege an dem wirtschaftlichen Desaster, das die peronistische Regierung von Alberto Fernández (2019-2023) Milei hinterlassen habe, erklärten Teilnehmer. Selbst in den einst von den Peronisten dominierten Armenvierteln sei die Zustimmung für Milei trotz dessen Sparkurs immer noch hoch.

Zumal Milei dort die peronistischen Organisationen zunehmend kaltstellt, die früher die Verteilung staatlicher Lebensmittelpakete übernahmen und über deren Schreibtische Anträge für Sozialhilfe liefen. «Intermediarios de la pobreza» (Vermittler der Armut), so hat Milei die Organisationen geschimpft. Nun erhalten Bedürftige direkt Lebensmittel vom Staat, und Sozialleistungen müssen bei den Behörden beantragt werden. Wer an nicht genehmigten Protesten teilnimmt, droht seine Sozialhilfe zu verlieren.

Es sei derzeit schwierig, die Basis zu mobilisieren, räumen Funktionäre im Gespräch ein. Ausserdem lähmten interne Machtkämpfe die Peronisten. Auch im Kongress. Wenige Minuten vor Beginn der Demonstration hatte dieser am 19. März Milei grünes Licht für Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über neue Milliardenkredite gegeben. Dabei konnte Milei sogar auf die Unterstützung von einem Teil der Peronisten zählen. Früher hätte die Aufnahme neuer Kredite beim IWF noch zu Massenprotesten geführt. Am Mittwoch jedoch packten die Blaskapellen der Gewerkschaften nach einer halben Stunde ihre Instrumente ein und gingen nach Hause.

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