Donnerstag, August 21

Sie ist ein begehbares Kunstwerk, das Sinneserlebnisse schafft: Nach der Erdbebenkatastrophe von Fukushima schufen der japanische Stararchitekt Arata Isozaki und der britisch-indische Künstler Anish Kapoor gemeinsam die erste aufblasbare Konzerthalle der Welt.

Es war ein eigentümlicher Anblick: Auf den sanften Hügelzügen oberhalb der kleinen Stadt Matsushima im Nordosten Japans erhob sich vor Jahren ein merkwürdiges Gebilde. Dass sich hier in einer der malerischsten Gegenden Japans ein UFO abgesetzt haben könnte, würde nicht weiter verwundern. Die idyllische Bucht mit ihren rund 260 mit Kiefern bewachsenen Inseln wurde schon vom grossen Haiku-Dichter Basho besungen. Das fremdartige Ding aber war von Menschenhand geschaffen. Es hatte die Form eines Ovals und sah wegen seiner zwischen Braun und dunklem Rot changierenden Farbe einer riesigen Aubergine ähnlich.

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Das Objekt gibt es immer noch. Und ist bald in der Schweiz zu bewundern, nämlich vom 4. bis zum 14. September in Luzern. Es stammt vom britisch-indischen Starkünstler Anish Kapoor und dem Ende 2022 verstorbenen, japanischen Architekten Arata Isozaki. Bei dem riesigen und wunderschön geformten Gemüse handelt es sich denn auch um ein hybrides Objekt zwischen Architektur und Kunst. Vor allem aber ist das faszinierende Ding, was seine Funktion betrifft, die erste mobile Konzerthalle der Welt.

Arche der Hoffnung

Die sonderbare Halle nennt sich «Ark Nova» und hat eine schöne Geschichte. Sie war eine Arche der Hoffnung für die Überlebenden der Fukushima-Katastrophe von 2011. Damals brachten die Fluten des Tsunami in der Gegend bei Sendai und Fukushima eine der grössten Naturkatastrophen über die Menschen, die Japan je erlebt hat.

Die Konzerthalle war eine Idee von Michael Haefliger, dem Intendanten des Lucerne Festival. Er wollte die Krisenzone mit einem kulturellen Hilfsprojekt unterstützen. Die Halle sollte den obdachlos Gewordenen einen Ort bieten, an dem sie Kultur erleben konnten. Aufgrund der aubergine-pinken Farbgebung vermittelt diese atmende Arche denn auch Geborgenheit und Wärme. Im Herbst 2013 war sie der Schauplatz einer unter der Leitung des Lucerne Festival durchgeführten Reihe von Konzerten und anderer kultureller Veranstaltungen.

Nun reist «Ark Nova» nach verschiedenen Stationen in Japan an den Vierwaldstättersee. Die aufblasbare, mobile Zeltkonstruktion wird auf der Luzerner Lidowiese vor dem Verkehrshaus im Rahmen des Lucerne Festival ein Gastspiel geben. Der spektakuläre Veranstaltungsort bietet gut 300 Personen Platz. Der Bodenbelag und die Sitzbänke sind aus Zedernholz gefertigt. Das Material stammt von totem Gehölz, das der Tsunami zurückliess.

Die Hülle der beinahe schwebenden Konzerthalle besteht aus einer PVC-Membran, deren Statik sozusagen allein der Luft bedarf und ohne zusätzliche Tragkonstruktion auskommt. Pumpen halten das Gebilde aufrecht und sorgen für Zu- und Abluft. Der Aufbau benötigt nicht mehr als 10 Minuten – theoretisch. Um die empfindliche Kunststoffhülle zu schonen, erfolgt die Aufrichtung jedoch behutsam: Die «Ark Nova» erhält ihre pralle Form durch langsames Aufblasen während mehrerer Stunden.

Ephemeres Gebilde

Das Provisorische ist ein wesentliches Merkmal der Baukunst des renommierten japanischen Architekten und Pritzker-Preis-Trägers Arata Isozaki. Sein Mantra lautete stets, dass «unsere Städte nur für einen flüchtigen Moment existieren». Angesichts der Zerstörung von Fukushima hatte sich diese Aussage leider allzu bitter bewahrheitet.

Wichtiger als Raum und Zeit erachtet Isozaki den Zwischenraum und die Zwischenzeit, wie er in seinen Texten über das japanische Raumprinzip des «Ma», des «Dazwischen», wiederholt reflektiert hat. Der Raum als blosse Möglichkeit, das gilt jedenfalls auch für das ephemere Gebilde von «Ark Nova».

Anish Kapoor wiederum ist bekannt für seine organischen Formen. Seine Riesenskulptur «Cloud Gate» in Chicago ist die grosse Attraktion im zentral gelegenen Millennium Park. Wie ein auf Hochglanz polierter Donut spiegelt das silbern glänzende Objekt die Wolkenkratzer der Umgebung. Diese 2004 errichtete Skulptur aus Stahl, von den Besuchern liebevoll auch «The Bean» genannt, weist schon fast wie «Art Nova» ein Innenleben auf. Die bogenförmige Hochwölbung in der Mitte der Unterseite des Ellipsoid-Körpers bietet einen etwa 3 Meter hohen Durchgang für Fussgänger. In dieser spiegelnden Höhle lassen sich bestens Selfies machen.

Mit solch optischen Phänomenen strebt Kapoor eine Erfahrung von Transzendenz an. Der 1954 in Mumbai geborene Künstler ist ein Virtuose des Immateriellen. In seinen Skulpturen sucht er nach der Entmaterialisierung der Materie. Berühmt sind seine in Edelstahl und Lack geschaffenen, konkaven Rundbilder, deren optische Sogwirkung das eigentliche Bild an der Wand gleichsam zum Verschwinden bringt. Der Blick verschwimmt in den Lackfarben dieser runden Wandbilder, die schliesslich ein blosses Loch in der Wand suggerieren.

Die «Art Nova»-Konzerthalle erinnert in ihrer Grösse und Farbe etwas an die riesige braunrote Kugel, die Kapoor 2020 für die Rotunde im Eingangsbereich der Pinakothek der Moderne in München geschaffen hatte. Die Installation war 14 Meter hoch und 22 Meter breit und erstreckte sich über drei Etagen des Hauses. Der immense monochrome Hohlkörper – ein Ballon, der die Architektur zu sprengen schien – zielte auf die physisch-sinnliche Wahrnehmung von Innen und Aussen, von Materialität und Immaterialität. Mit seiner Kugel zelebrierte der Künstler die Wirkung des nicht sichtbaren Raumes. Das Werk war zugleich ein Objekt sowie etwas, das Kapoor ein «Nicht-Objekt» nennt.

Akustischer Raum

Das gilt auch für «Ark Nova», ein beinahe immaterielles Objekt, das auch als Raum wahrgenommen werden kann – und vor allem als akustischer Raum funktioniert. Während der Luzerner Konzerttage werden darin nicht weniger als 35 Konzerte aus den Bereichen Pop, Folk, Jazz und Weltmusik stattfinden, die das Klassikprogramm des Lucerne Festival ergänzen. Eröffnet wird der Konzertreigen von Sarah Willis und ihrer Sarahbanda, einer kubanischen Salsa-Band mit Waldhorn.

Dann wird dieses wunderschöne Zelt gleichsam zur Klangwolke. Dessen Genese und Nutzung werden übrigens in einer Ausstellung im Museum Hans Erni (bis 12. Oktober) demonstriert: Modelle und Dokumente, Fotografien und Filme erläutern das Konzept dieser temporären Veranstaltungsarchitektur bis ins Detail.

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