Der Chef der Schweizer Armee musste in den vergangenen Monaten viel Kritik einstecken. Parlamentarier zeigten sich besorgt, die Medien hakten nach. Im Gespräch mit der NZZ erklärt er, was läuft und was nicht. Und es zeigt sich: Nicht immer liegt die Verantwortung bei der Armee.
Herr Süssli, was bedeutet der Rücktritt von Viola Amherd an der Spitze des Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) für die Armee?
Ein Rücktritt ist immer mit einer gewissen Unsicherheit verbunden. Man weiss nicht, wer folgen wird. Die Armee, aber auch ich persönlich haben sehr gut mit Frau Amherd zusammengearbeitet. Sie hat der Armee nach dem 24. Februar 2022 . . .
. . . dem Tag des Angriffs auf die Ukraine . . .
. . . sehr rasch den Auftrag gegeben, die Verteidigungsfähigkeit zu stärken. Diesen Auftrag werden wir auch weiterhin umsetzen.
Die Finanzdelegation der Bundesversammlung hat der VBS-Chefin Viola Amherd kurz vor Weihnachten einen Brief geschrieben, in dem sie sich sehr besorgt über den Stand von sieben Schlüsselprojekten im Umfang von 19 Milliarden Franken zeigt. Verstehen Sie die Besorgnis?
Ja, und ich teile sie auch. Diese Projekte haben alle den Zweck, die Verteidigungsfähigkeit der Armee zu stärken. Wir reden hier allerdings von sieben Projekten, die uns Sorgen bereiten, insgesamt gibt es etwa 200, und die meisten laufen gut. Erst gerade über das Jahresende haben wir das neue SAP erfolgreich eingeführt.
Warum gibt es dennoch einige Grossprojekte, die nicht wie geplant laufen?
Es gibt mehrere Gründe. Punkt eins ist die Komplexität dieser Vorhaben. Punkt zwei: Die Anforderungen an diese Projekte waren von Anfang an hoch, und es kam auch vor, dass die Komplexität unterschätzt wurde. Punkt drei: Wegen der hohen Nachfrage nach Rüstungsgütern kommt es vermehrt zu Lieferengpässen. Wenn die Güter mit Verspätung doch geliefert werden, macht sich auch die Teuerung bemerkbar, die bis 40 Prozent betragen kann.
Die Grundlage vieler Projekte ist die Neue Digitalisierungsplattform (NDP). In den vergangenen Tagen haben namhafte Sicherheitspolitiker gesagt, die neue VBS-Spitze müsse diesem Schlüsselprojekt notfalls den Stecker ziehen. Worum geht es da?
Das Projekt NDP ist der letzte Schritt in einem Programm, dessen Anfänge in das Jahr 2014 zurückreichen. Es war damals visionär, als es darum ging, die gesamte Informatik der Armee zu erneuern. Die damalige und noch heutige Informatik ist sehr heterogen und verteilt. Die NDP ermöglicht künftig den Betrieb von einsatzkritischen Anwendungen für die Armee und den Sicherheitsverbund Schweiz über eine sichere Plattform auf drei Rechenzentren, zwei davon voll geschützt.
Es handelt sich also um eine Betriebsplattform?
Ja. Wir reden von einer robusten Betriebsplattform, die gegen kinetische Angriffe und Cyberangriffe gut geschützt und unabhängig von Strom ist. Sie ist zentral für einsatzkritische Anwendungen der Armee, wie etwa C2Air.
C2Air, das neue System zur Luftraumüberwachung und Kampfjetleitung, soll über die NDP betrieben werden. Offenbar ist die Integration aber sehr viel komplexer als gedacht. Kritiker reden von jahrelangen Verspätungen und Nachkrediten in Millionenhöhe. Was läuft schief?
Es ist uns nicht ausreichend gelungen, zu erklären, dass die NDP in einer ersten Phase einfach eine Betriebsplattform ist. Eine Plattform, die uns hilft, im Betrieb Kosten zu sparen, weil wir alle Anwendungen konsolidieren können.
Geplant ist, dass mit der Zeit alle kriegswichtigen Anwendungen über NDP laufen.
Wenn von der NDP die Rede war, dann oft mit Blick in die Zukunft. Man sprach kaum von dem, was die NDP in einer ersten Phase leistet, sondern davon, was sie einmal vollumfänglich leisten soll. Das hat offenbar den Anschein erweckt, dass wir zu ambitioniert sind.
An der Entwicklung war Swisscom beteiligt, es gab aber auch ausländische Anbieter, die die NDP noch so gerne aufgebaut hätten. Das tönt verdächtig nach Swiss Finish.
Das Projekt wurde 2017 unter dem Namen «RZ 2020 Architektur und Infrastruktur» ausgeschrieben. 2019 gab Armasuisse Swisscom den Zuschlag. Den Begriff Swiss Finish halte ich für unzutreffend. Jede Armee ist anders. Expeditionsarmeen, die ihre Informatikausrüstung bei Auslandeinsätzen mitführen müssen, bevorzugen tendenziell Standardlösungen. Die Schweizer Armee jedoch wird immer ausschliesslich in der Schweiz verteidigen.
Das heisst?
Unsere Infrastruktur ist einzigartig. Denken Sie an unsere drei Rechenzentren mit dem Führungsnetz Schweiz. Die Armee hat sich deshalb entschieden, dass Swisscom mit Standardkomponenten und Standardsoftware eine Betriebsplattform baut, welche diesen spezifisch schweizerischen Anspruch erfüllt.
Offenbar harzt es auch beim Aufbau einer robusten Kriegslogistik, die sich wegen IT-Problemen bis 2035 hinzieht. Was ist hier das Problem?
2004 wurde die Armee mit der Reform XXI auf die damals wahrscheinlichsten Einsätze ausgerichtet. Gleichzeitig wurde auch die Kriegslogistik abgeschafft. Als SAP im Jahr 2018 die Migration von SAP R3 auf S/4Hana ankündigte, war das für die Armee eine enorme Herausforderung. Denn SAP ist für die ganze Logistik der Miliz und der Verwaltung zuständig: Personal, Finanzen, Bereitstellung des Materials, Instandhaltungen, Beschaffungen. Diese Prozesse stammen aus einer Zeit, die noch nicht auf eine Kriegslogistik ausgerichtet war.
Die Welt von 2025 ist nicht mehr die von 2018?
Das muss man leider so sagen. Das neue SAP-Projekt braucht enorme Ressourcen. Deshalb haben wir bereits 2022 entschieden, dass wir erst den Wechsel auf S/4Hana abschliessen müssen, bevor wir ein neues SAP-Projekt für die Kriegslogistik in Angriff nehmen können. Wir haben nicht die Ressourcen, zwei grosse Logistikprojekte gleichzeitig zu stemmen.
Die Arbeiten für eine SAP-Lösung im Bereich Kriegslogistik haben also noch gar nicht begonnen?
Die Migration auf S/4Hana ist erfolgreich abgeschlossen. Wir haben bereits 2022 eine Studie in Auftrag gegeben, die aufzeigen soll, welche Lösungen sich für eine robuste Kriegslogistik eignen. Wie lange das eigentliche Projekt dauern wird, wissen wir noch nicht. Ich habe offen gestanden aufgehört, zu optimistisch zu sein. Wahrscheinlich reden wir eher von 2035; aber sicher so rasch wie möglich.
Der Aufbau einer robusten Kriegslogistik war nicht Teil des ursprünglichen Vertrags mit SAP?
Nein, es war nie die Rede davon, dass S/4Hana auch eine neue Kriegslogistik unterstützen sollte.
Die Finanzdelegation schreibt, sie sei erstaunt, dass im Vertrag mit SAP keine Verpflichtung zur unabhängigen Kriegslogistik festgelegt worden sei. Heisst das, dass man lange der Meinung war, dass es doch eine SAP-Lösung für die Kriegslogistik geben könnte?
In der Defense Industry Group von SAP, in der auch die Schweizer Armee vertreten ist, war 2018 noch die Rede davon, dass SAP ein sogenanntes Disconnected-Operations-Modul zum Verkauf anbieten würde. In dem Paket, das wir gekauft haben, ist dieses Modul auch enthalten. Bei den Verhandlungen, bei denen ich damals noch nicht dabei war, ist man dann wohl davon ausgegangen, dass ein isolierter Betrieb von SAP möglich wäre. Mittlerweile hat sich aber gezeigt, dass das nicht der Fall ist.
Offenbar weiss die Armee bis heute nicht, wie viel eine robuste Kriegslogistik kosten wird. Weshalb nicht?
Es ist ein Teil der gegenwärtigen Kritik, dass wir zu optimistisch budgetieren und wir dann im Parlament zusätzliche Kredite beantragen müssen. Zum heutigen Zeitpunkt wäre es unverantwortlich, eine Zahl zu nennen. Wir müssen jetzt erst einmal eine Bedarfsanalyse machen und danach ein Projekt starten.
Und wie steht es mit der Luftraumüberwachung C2Air? Ursprünglich hätte dieses System 155 Millionen Franken kosten sollen. In der Armeebotschaft 2023 wurden zusätzliche 159 Millionen bewilligt. Dennoch verzögert sich die Einführung.
Auch dieses System soll in die neue Digitalisierungsplattform integriert werden. Allerdings waren die beiden Projekte anfangs zu wenig aufeinander abgestimmt. Das hat über den Verlauf hinweg bei den verschiedenen Teams zu Spannungen geführt. Am 1. Januar 2024 haben der neue Programmleiter und ich als Auftraggeber die Verantwortung für das Projekt übernommen. Nach vielen Gesprächen und Befragungen haben wir festgestellt, dass die angestrebte technische Lösung hohe Risiken aufweist. Die Projektteams haben daher eine neue Lösung erarbeitet. Weiter haben wir Ende Jahr beschlossen, die beiden Teams zusammenzulegen. Damit soll eine bessere Abstimmung und Zusammenarbeit ermöglicht werden.
Gegenüber SRF hat die Armee kürzlich zugegeben, dass das veraltete Luftraumüberwachungssystem heute schon ausfallen könnte. Kann die Schweizer Armee den Luftraum überhaupt sichern?
Man muss unterscheiden. Im Alltag überwacht Skyguide den Luftraum. Im Falle einer Krise oder eines Krieges müsste die Armee übernehmen. Die von der Armee dafür betriebenen Systeme sind alt. Wir haben jedoch personelle und technische Massnahmen getroffen, damit diese noch einige Jahre betrieben werden können.
Das ist aber ein ziemliches Risiko, nicht?
Wir sind der Ansicht, dass das Risiko bis im Jahr 2029 tragbar ist. Dann müssen wir spätestens das neue Luftraumüberwachungssystem C2Air einführen.
Wenn man Ihnen so zuhört, tönt alles erklärbar. Tatsache ist aber, dass die Schweiz weder eine robuste Kriegslogistik noch eine kriegstaugliche Luftraumüberwachung hat.
Wir haben immer transparent informiert – auch gegenüber der Finanzdelegation der Bundesversammlung und der Eidgenössischen Finanzkontrolle. Solche Grossprojekt sind eigentlich nichts anderes als ein ständiges Planen sowie ein Risiko- und Mangelmanagement. In einem Projekt werden immer neue Risiken identifiziert. Mängel, die auftauchen, müssen bearbeitet werden. Und ja, es bleibt eine Herausforderung, diese Projekte zum Erfolg zu bringen. Aber im Moment gehen wir davon aus, dass wir die Projekte erfolgreich abschliessen werden. Und was wichtig ist: Bei diesen Projekten ist kein finanzieller Schaden entstanden.
Wie kann das sein, wenn sich Projekte verspäten und Nachtragskredite gestellt werden müssen? Von der Teuerung ganz zu schweigen.
Bei Projekten wird stets ein Risiko- und Teuerungszuschlag einkalkuliert, welcher bei Verzögerungen und steigender Teuerung genutzt werden kann. Zudem arbeiten die externen Anbieter auf Basis einer fixen Offerte mit einem Fixpreis. Es gibt auch Projekte, die unter Budget abschliessen. Ein Beispiel: Die Armee hat kürzlich den Projektabschlussbericht des Brückenlegesystems verfasst. Statt mit den budgetierten Kosten von 179 Millionen Franken konnte das Projekt mit rund 141 Millionen abgeschlossen werden.
Wie steht es grundsätzlich um die Ausrüstung der Armee? Sie haben kürzlich bei einer Tagung der SVP gesagt, sie sei unglaubwürdig.
Nein, das habe ich nicht so gesagt. Was ich vielmehr gesagt habe: Die Ausrüstung der Armee ist im Moment ungenügend, um glaubwürdig darzulegen, dass wir bereit sind, die Souveränität der Schweiz zu verteidigen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Verteidigungsfähigkeit der Schweiz wieder stärken.