Das südkaukasische Land emanzipiert sich nach vielen Enttäuschungen von Russland. Moskau reagiert verärgert. Trotzdem sind die beiden Staaten aufeinander angewiesen.
Hat Armeniens Parlament gerade einen Schritt auf den Abgrund zu gemacht? Für Russlands Regierung ist die Sache eindeutig. Eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union komme dem Kauf eines Tickets für die «Titanic» gleich, sagte der stellvertretende russische Ministerpräsident Alexei Owertschuk im Februar, als eine Mehrheit der armenischen Abgeordneten in erster Lesung einem Gesetzesvorschlag zum EU-Beitritt des Landes zustimmte. Am Mittwoch verabschiedete das Parlament das Gesetz auch in zweiter, definitiver Lesung. Die Opposition, die nach Moskau ausgerichtet ist, blieb der Abstimmung fern und nannte das Vorhaben lächerlich.
Der Parlamentsbeschluss besitzt vor allem Symbolkraft. Ein EU-Beitritt müsste in einer Volksabstimmung bestätigt werden und wäre ein sehr hürdenreiches Unterfangen, hatte Ministerpräsident Nikol Paschinjan schon im Februar gesagt. Das Gesetz ist eher ein Wegweiser und Ausdruck einer über die Jahre gewachsenen aussenpolitischen Neuorientierung, die Russland nicht gefällt.
Unmut in Moskau
«Auf uns wartet man in Brüssel», behauptete Artak Seinaljan, ein früherer armenischer Justizminister, bei der ersten Lesung. Er vertritt die Initiativgruppe, ohne die es gar nie zur Abstimmung im Parlament gekommen wäre. Sie hatte im vergangenen Herbst 50 000 Unterschriften gesammelt und damit den Gesetzesvorschlag ins Parlament eingebracht. Die Bewegung aus dem Volk ist ein durchaus bemerkenswerter Vorgang. Sosehr die Regierung hinter dem politischen Ziel einer Annäherung an Europa steht und dafür auch symbolbehaftete Schritte gehen will, so sehr ist ihr bewusst, dass eine EU-Integration im Moment vollkommen illusionär erscheint.
Das hatte die EU schon im vergangenen Jahr klargemacht, als sich Brüssel und Erewan für eine Vertiefung der Beziehungen aussprachen. Engere Bande werden aber zwischen der EU und Armenien gleichwohl geknüpft. Nach der Enttäuschung in Brüssel über Georgiens Abkehr vom Weg nach Europa und dem Unmut über die verschärfte Repression in Aserbaidschan ist Armenien geradezu ein sicherer Wert. Das seit 2018 wirksame Abkommen über eine «umfassende und vertiefte Partnerschaft» (Cepa) wird derzeit erneuert und ausgeweitet. Vor einem Monat sagte der dafür zuständige stellvertretende armenische Aussenminister Paruir Owanisjan, die beiden Seiten stünden kurz vor einer Einigung. Gegenüber Russland bedeutet das seit je einen Seiltanz. 2014 war Armenien unter Druck aus Moskau der Eurasischen Wirtschaftsunion beigetreten.
Das Cepa war der Versuch der EU, eine Antwort auf das Dilemma zu finden, in das 2013 die Ukraine gestürzt war, als sich der damalige ukrainische Präsident Janukowitsch zwischen der Assoziierung mit der EU und engen Wirtschaftsbeziehungen mit Russland entscheiden musste und so den Protest auf dem Maidan auslöste. Auch jetzt kommen aus Moskau drohende Untertöne. Eine Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion und eine in der EU schlössen sich gegenseitig aus, mahnen russische Funktionäre. Owertschuk stellte seinem «Titanic»-Vergleich die Teilhabe an der Eurasischen Wirtschaftsunion als Privileg gegenüber. Die Sprecherin des russischen Aussenministeriums malte mit Blick auf Armenien schon oft das Schicksal der Ukraine als Beispiel für eine fatal falsche Entscheidung – nämlich die für den Westen statt für Russland – an die Wand.
Neue Partnerschaften
Dabei ist Russland alles andere als unschuldig an der Entwicklung. Armenien gehörte lange zu den Russland am meisten zugewandten ehemaligen Sowjetrepubliken. Die «samtene Revolution» 2018, die Paschinjan an die Macht brachte, rüttelte ein erstes Mal daran; zu sehr war Russland mit der alten, korrupten Machtelite verbunden gewesen. Einen Bruch im Verhältnis brachten aber vor allem der Karabach-Krieg 2020 und die darauffolgenden Jahre, die in der eintägigen, handstreichartigen Eroberung des verbliebenen, von Armeniern bewohnten Teils Karabachs im September 2023 gipfelten. Armenien fühlte sich von Moskau, seinem Sicherheitsgaranten mit Truppenpräsenz im Land, militärisch und politisch im Stich gelassen. Die Mitgliedschaft im Militärbündnis ODKB legte es auf Eis.
Russlands Prioritäten im Kaukasus haben sich verändert, auch durch den Krieg gegen die Ukraine. Ein engeres Verhältnis zu Armeniens Feind Aserbaidschan bringt dem Kreml macht- und wirtschaftspolitisch mehr als zum schwachen Armenien. Erewan suchte deshalb intensiver Partner jenseits von Russland und fand sie in Europa, Amerika, in Indien und im Nachbarland Iran. Mit den USA unterzeichnete es im Januar ein Abkommen über eine strategische Partnerschaft – eine Woche vor der Amtsübernahme Donald Trumps. Dieser zeigte bis jetzt wenig Interesse am Südkaukasus.
Das Gefühl, während der dunkelsten Stunden von allen – von Russland wie vom Westen – alleingelassen worden zu sein, warf Armenien auf sich selbst zurück. Paschinjan sieht, gegen viel internen Widerstand, in der Normalisierung der Beziehungen zur Türkei und zu Aserbaidschan die Voraussetzung für eine stabile Entwicklung.
Wiederannäherung an Russland
Jüngst ist auch eine Wiederannäherung an Russland zu beobachten. Die Kontakte haben sich intensiviert. Die beiden Staaten wollen zu einer nüchterneren Beziehung finden. Eine zeitweilige Abkühlung zwischen Moskau und Baku mag dazu beigetragen haben, aber auch die Erkenntnis, dass beide letztlich aufeinander angewiesen sind.
Das gilt auch für das Bestreben, endlich zu einem Frieden mit Aserbaidschan zu kommen. Auf die Ankündigung vor zwei Wochen, der Friedensvertrag sei fertig ausgehandelt, folgte aber die ernüchternde Erkenntnis, dass eine Unterzeichnung angesichts der zusätzlichen aserbaidschanischen Bedingungen noch länger auf sich warten lassen dürfte. Die EU ist auch da einer der Knackpunkte: Sie spielt mit ihrer Beobachtermission an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze eine für Armenien wichtige Rolle. Aber der Friedensvertrag sieht deren Abzug vor – auf Druck Bakus.