Mittwoch, Oktober 9

Der einstige Herrscher über das Heilige Römische Reich litt am Lebensende unter Gicht und Malaria. Im Roman des österreichischen Schriftstellers begibt er sich auf eine letzte Reise, um dem qualvollen Leben ein Ende zu bereiten.

Sein Reich war bekanntlich so gross, dass die Sonne darin niemals unterging. Zum Lebensende allerdings will Karl V., gichtgeplagter und malariakranker ehemaliger Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, nur noch eines: selbst untergehen. Am Strand der spanischen Stadt Laredo stürzt er sich mit selbstmörderischer Absicht in die Fluten. «Karl lehnte sich zurück, und die nächste Welle brach über seinem Kopf, und das Wasser fuhr unter ihm durch, hob ihn hoch, es drehte ihn, und das war’s.»

War’s das? Vierhundertsechsundsechzig Jahre nach seinem Tod muss sich einer der grössten europäischen Herrscher gefallen lassen, dass ihm der österreichische Schriftsteller Arno Geiger ein furioses Finale andichtet. Der echte Karl V. ist wenig spektakulär in seinem Bett in San Jerónimo de Yuste gestorben, aber Geigers «Reise nach Laredo» kümmern historische Details wenig. Der Roman liefert ein Abenteuer, das aussieht wie früher grosses Breitleinwand-Kino. Mit viel Sand unter den Sandalen, mit finsteren Schurken und edlen Gefühlen. Ein bisschen Don Quijote, ein bisschen Kitsch. Und das alles kommt einem ziemlich spanisch vor.

Sachlich noch halbwegs korrekt, beginnt der Roman so: Zwei Jahre nach seiner Abdankung dämmert der alte Kaiser an seinem Rückzugsort, einem Kloster in Yuste, dem Tod entgegen. Er kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Vom Bett aus hat er freien Blick auf den Altarraum der Kapelle. So hatte es sich der gläubige Karl beim Bau seiner letzten Villa gewünscht. Er ist von seinem Majordomus und seinem Beichtvater umschwirrt, wenig erfreulichen Existenzen.

Flucht mit dem Maulesel

Bevor die Lage vollends ins Altersdepressive kippt, gibt ihr Arno Geiger eine Wendung ins Magische. Da ist der elfjährige Knabe Geronimo, der nicht weiss, dass er ein illegitimer Sohn des Kaisers ist. Später wird er als Don Juan de Austria noch Karriere machen, aber dieses Faktum unterschlägt Geiger. Dem Knaben schlägt Karl während eines Gesprächs im Garten plötzlich vor, gemeinsam durchzubrennen.

Das Wort steht tatsächlich so da, aber geschwindigkeitstechnisch weist es in die falsche Richtung. Vor Morgengrauen den gichtbeinigen und von Hämorrhoiden geplagten Kaiser wenigstens auf einen Maulesel zu hieven, ist ein schwieriges Unterfangen. Dann trabt man los, hinein ins Abenteuer.

«Reise nach Laredo» ist ein seltsamer Hybrid und etwas verwunderlich, auch wenn die literarische Wandlungsfähigkeit Arno Geigers schon bisher bekannt war. Es ist ein mit unglaublichen Ereignissen vollgestopfter Roman, vor dessen historischer Folie allerhand poesiealbumserprobte Zaunpfähle winken: «Schönheit ist selten wahr und Wahrheit selten schön. Leider.» Oder: «Gott kennt keine Ordnung, er kennt nur sich selbst, das ist Ordnung genug.»

Zwischen Sätzen wie diesen kann es während eines wochenlangen Ritts in der sonnen- und mondbeschienenen Landschaft auch ziemlich unmajestätisch zugehen: «Karl kam die Pisse wie Rotz heraus. Nur die Geier lebten auf und stritten um das im Gelände liegende Aas. Ein junges geschecktes Pferd stand ein Stück abseits neben der Strasse mit heraushängenden Eingeweiden, als sei es von einem Stier gestossen worden.»

Arno Geigers statische Sätze stehen in seltsamem Kontrast zur Beweglichkeit der Handlung. Nichts ist auf der Reise nach Laredo unmöglich. Bald treffen Don Karl und sein kleiner Sancho Pansa auf ein junges Geschwisterpaar, das auf offener Landstrasse von Verbrechern beraubt und gepeinigt wird. Diese beiden, Angelita und Honza, gehören zur Volksgruppe der Cagots, die bis weit ins 19. Jahrhundert in Spanien und Frankreich von allem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen waren und verfolgt wurden.

Gemeinsam zieht man auf einem Heuwagen weiter und lässt sich bei einer Heilerin Wunden, Gicht und Fieber versorgen. Nach Laredo ist es ein gutes Stück Weg. So bleibt genügend Zeit für Karl, über sein verflossenes Leben zu philosophieren. Über Macht, Liebe und Kunst. Über Gespräche mit Tizian, Dürer und Erasmus von Rotterdam. Isabella von Portugal, die jung verstorbene grosse Liebe Karls V., wird von selbigem retrospektiv noch einmal gewürdigt.

Der Monarch versinkt im Elend

In «Reise nach Laredo» geht es um die fast überirdisch grosse Macht eines Politikers und gleichzeitig um menschliche Demut. Der unerhörte Akt der Abdankung im Jahr 1556 war das Scharnier zwischen beidem. Wenn Arno Geiger in seinem Roman versucht, den Menschen hinter dem Monarchen zu zeigen, dann dankt in seiner Geschichte leider jede Plausibilität ab.

Noch vor der Hälfte des Buchs steckt die gemischte Reisegruppe in einer Stadt in einem Wirtshaus fest. Das bleibt fast bis zum Ende so. Der ehemalige Kaiser, nach aussen hin kein allzu unterhaltsamer Mensch, verfällt dem Bier und dem Glücksspiel. Alles Geld ist weg, und der Monarch wirkt zunehmend wie die Hauptfigur in einem B- oder C-Movie.

Der Wirt wird immer bedrohlicher, und seine wohl aus Mexiko oder Südamerika stammende Magd verdreht dem Greis die Augen. Zwischen Geronimo und Angelita gibt es eine zarte und keusche Liebesgeschichte, während Honza wilde Zukunftspläne schmiedet. Und dann ist da noch ein mächtiger Greif im Hof des Wirts, den man als eine Allegorie nehmen könnte. Allegorie allerdings wofür?Hat Karl V. diese wilden Geschichten nur geträumt? Sind sie ihm im Fieber aus den Tapisserien hinter seinem Bett direkt in die Einbildung gesprungen? Man weiss es nicht.

Was man allerdings weiss: wie grossartig «Reise nach Laredo» hätte werden können. Auf den ersten Seiten seines Romans beschreibt Arno Geiger eine einzige Szene. Im Kloster von Yuste wird der ehemalige Kaiser des Heiligen Römischen Reiches mit einer eigens angefertigten Apparatur zum Baden in ein Wasserbecken gehievt. In getragenen Sätzen beschreibt der österreichische Schriftsteller den Vorgang.

Hier sieht man den Menschen hinter der Macht, während der Hofstaat seine Augen nicht abwenden kann: ein nacktes, von der Gicht verzerrtes Bündel Nichts. In dieser wie in Zeitlupe beschriebenen Szene ist mehr Ecce Homo, als der restliche Roman aus windigen Abenteuern herauspressen kann. Mit seiner Donquichotterie namens «Reise nach Laredo» scheint sich Arno Geiger diesmal vergaloppiert zu haben.

Arno Geiger: Reise nach Laredo. Roman. Carl-Hanser-Verlag, München 2024. 272 S., Fr. 35.–.

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