Samstag, April 19

Die Stadt Zürich beruft Mischa Liatowitsch in die neu geschaffene Rolle. Es kommt viel Arbeit auf ihn zu.

Als Mischa Liatowitschs Urgrossvater sein Haus zum letzten Mal verlässt, ist er sechzig Jahre alt. Es ist der 16. April 1942, und Arthur Bloch, Viehhändler von Beruf, reist beruflich von Bern nach Payerne. Dort, auf einem Viehmarkt, sprechen ihn zwei Männer an. Sie wollten ihm eine Kuh verkaufen, sagen sie. Und Bloch folgt ihnen in eine Scheune.

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Dort schlagen sie ihn mit Komplizen nieder, erschiessen ihn, zerstückeln brutal seinen Leichnam und werfen ihn, versteckt in drei Milchkannen, in den Neuenburgersee.

Es ist eine Tat aus Rassenhass. Die Männer sind Frontisten, Schweizer Nationalsozialisten. Den Mord begehen sie als verfrühtes Geburtstagsgeschenk für Adolf Hitler.

Achtzig Jahre später wird Liatowitsch, Blochs Urenkel, die Nachwirkungen der Tat in einem NZZ-Essay beschreiben. «Wie Geflüster lag Arthur Blochs Geschichte über meiner Kindheit, stets gegenwärtig, jedoch ungreifbar», heisst es darin. «Wie grauenhaft, dass mein Urgrossvater sterben musste, nur weil er Jude war. Ein Jude in der Schweiz.»

Die Tat gilt heute als Beispiel für den Antisemitismus, der in den 1940er Jahren auch in der Schweiz grassierte. Der Schriftsteller Jacques Chessex schrieb basierend darauf den Roman «Un juif pour l’exemple», der 2016 mit Bruno Ganz in der Hauptrolle verfilmt wurde.

Für Liatowitsch, den Urenkel, ist die Geschichte noch mehr als das. «Oft lag ich wach im Bett und stellte mir die Milchkanne vor, in der seine Überreste beseitigt worden waren», schreibt er. Als Teenager sei er nie auch nur eine Minute zu spät von einer Party nach Hause gekommen – weil seine Mutter, wie die ihre vor ihr, panische Angst bekam, wenn sie nicht wusste, wo ihre Kinder waren.

Mischa Liatowitsch ist heute kein Teenager mehr. Er hat bei den Vereinten Nationen Karriere gemacht, arbeitet zurzeit für das Kinderhilfswerk Unicef. Und bald wird er eine neue Stelle antreten: die als der erste Antisemitismusbeauftragte der Stadt Zürich – und damit der erste des Landes.

Mehr antisemitische Vorfälle

Die Ernennung, vom Präsidialdepartement am Mittwoch gegenüber der NZZ bestätigt, geht auf einen Vorstoss im Stadtparlament zurück. Von dem GLP-Politiker Ronny Siev initiiert, wurde er am Ende von allen Parteien unterstützt. Hintergrund der Forderung war unter anderem die Zunahme an antisemitischen Vorfällen nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023.

Gemäss dem jüngsten Antisemitismusbericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) wurden 2024 schweizweit 221 antisemitische Vorfälle registriert, vier Mal so viele wie noch 2022. Anfeindungen in der virtuellen Welt sind dabei nicht mitgezählt.

Der schwerwiegendste Vorfall ereignete sich vor rund einem Jahr, als ein 15-jähriger IS-Anhänger in Zürich einen orthodoxen Familienvater niederstach.

In der Stadt Zürich beobachten jüdische Verbände auch immer wieder problematische Äusserungen im Kontext mit dem Nahostkonflikt – etwa in Institutionen, die der Stadt nahestehen. So trat beispielsweise ein Vertreter des in Deutschland wegen Antisemitismus und Extremismus verbotenen Netzwerks Samidoun in der «Zentralwäscherei» auf.

Liatowitsch soll in seiner neuen Funktion nun die Stadtverwaltung und explizit auch stadtnahe Institutionen für das Thema Antisemitismus sensibilisieren, sie bei Unsicherheiten beraten und als Ansprechperson für die jüdische Gemeinschaft fungieren. Auch die Präventionsarbeit – etwa in Schulen – gehört zu seinen Aufgaben.

Nach aussen zum Thema kommunizieren soll er dagegen nicht – das bleibe Aufgabe der Stadtpräsidentin, heisst es bei der Stadt. Auch verbindliche Weisungen wird der Beauftragte keine aussprechen können.

«Die Koffer zeitlebens gepackt»

Dass Liatowitsch vor allem gegen innen, also in die Stadtverwaltung, wirken soll, begrüsst Jonathan Kreutner, der Generalsekretär des SIG. Er ist mit der Ernennung sehr zufrieden. Es sei eine wichtige Position – und das erste Mal, dass in der Schweiz eine solche geschaffen werde.

Kreutner sagt aber auch: «Es wird viel Arbeit auf den neuen Antisemitismusbeauftragten zukommen – auch in Zürich gibt es hier noch Handlungsbedarf.»

Liatowitsch selbst will sich vor seinem Stellenantritt nicht zu seinen Zielen äussern, wie er der NZZ schreibt. Zur Zunahme antisemitischer Vorfälle hat er jedoch bereits Stellung bezogen. «Der 7. Oktober des letzten Jahres war ein Wendepunkt», schrieb er vergangenes Jahr in der NZZ. «In keiner Zeit nach der Shoah haben Jüdinnen und Juden in der Diaspora mehr um ihre Sicherheit gefürchtet. Auch hier in der Schweiz.»

Sein Grossvater väterlicherseits sei als Sohn eines polnischen Immigranten in Basel aufgewachsen. Er sei als Erster in der Familie an die Universität gegangen und der Schweiz dafür stets dankbar gewesen.

«Und dennoch: Mein Grossvater hatte die Lektion der Geschichte gelernt», schreibt Liatowitsch. «Er war sich bewusst, dass die Situation für Jüdinnen und Juden sich jederzeit verschlechtern könnte. Egal, wie etabliert sie waren. Egal, wo sie lebten. Die Koffer in seinem Kopf blieben zeitlebens gepackt.»

Gegen dieses Gefühl – und gegen die nur zu realen Vorfälle, die es auslösen – soll sein Enkel nun ab September in der Stadt Zürich ankämpfen.

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