Das veraltete Tarifsystem für ambulante Arztleistungen wird nach langem Gezerre renoviert. Der Bundesrat hat am Mittwoch die Einführung des neuen Systems genehmigt. Doch weitere Renovationen sind schon angedacht.
Es geht um viel Geld. Über den geltenden Arzttarif für ambulante Leistungen wurden zuletzt rund 13 Milliarden Franken pro Jahr abgerechnet. Das sind etwa 1400 Franken pro Einwohner und Jahr, und es entspricht ungefähr einem Drittel des gesamten Prämienvolumens in der Grundversicherung der Krankenkassen. Der geltende Tarif namens Tarmed ist seit 2004 in Kraft und gilt seit längerem als veraltet. Die Behandlungsarten und die Kosten haben sich zum Teil stark verändert, was längst nicht immer in der Tarifstruktur abgebildet ist. Eine oft gehörte Kritik: Hausärzte kommen im Verhältnis zu manchen Spezialisten zu schlecht weg. Umgekehrt gesagt: Gewisse Spezialisten kommen zu gut weg.
Nach jahrelangen Kontroversen hat der Bundesrat am Mittwoch eine Generalrevision der Tarifstruktur mit Einführung per Anfang 2026 genehmigt. Das neue Tarifsystem namens Tardoc enthält knapp 1400 Tarife für einzelne Leistungen – etwa halb so viele wie das bisherige System. Hinzu kommen neu 315 Pauschalen in Anlehnung an die schon 2012 eingeführten Pauschalen für stationäre Spitalleistungen. Tardoc legt die Tarifstruktur fest – die relativen Kosten der erfassten Gesundheitsleistungen (Taxpunkte). Die effektiven Preise entstehen durch die Multiplikation der Taxpunkte mit den kantonal oder regional festgelegten Taxpunktwerten. Dieses zweistufige Verfahren mit Struktur und Preisen sieht man auch in Steuersystemen – mit Steuertarifen und Steuersätzen.
Die Reform der Tarifstruktur ist ein bedeutender Schritt im Gesundheitswesen. Ein Kernziel ist die Linderung von Fehlanreizen. Die Tarife sollen näher als bisher bei den effektiven Kosten liegen. Überbezahlte Leistungen sollen günstiger werden, unterbezahlte Leistungen sollen teurer werden. Das breite Publikum wird davon direkt kaum viel merken. Aber wenn die Reform wie gewünscht wirkt, dürfte es im Gesundheitswesen mittelfristig weniger Verschwendung und damit einen tieferen Anstieg der Kosten geben.
Tendenziell besser bezahlt als bisher werden Haus- und Kinderärzte und generell die ärztlichen Beratungstätigkeiten. Tendenziell schlechter gestellt werden gewisse Spezialisten und generell Tätigkeiten mit Benutzung von teuren technischen Hilfsmitteln. Doch solche Tendenzaussagen müssen nicht in jedem Einzelfall stimmen, und die effektiven Wirkungen werden sich erst in einiger Zeit zeigen.
Am lautesten sind die Verlierer
Klar ist indes: Wie bei jeder Neuverteilung des Gesamtkuchens ist mit Gewinnern und Verlierern zu rechnen – und die Verlierer rufen viel lauter als die Gewinner. Diese gängige Asymmetrie ist in der Kontroverse der letzten Jahre oft deutlich geworden. Ärztegesellschaften, die Spezialisten vertreten, kritisierten, dass sie ihre Leistungen unter dem neuen Tarif in gewissen Fällen nicht mehr kostendeckend anbieten könnten. Anderseits beklagte sich keiner öffentlich, dass seine Leistungen unter dem bestehenden oder dem neuen Tarif überbezahlt seien. So ist das Leben.
Der Bundesrat hat den neuen Tarif nicht erfunden. Dieser beruht auf den Eingaben der für den Tardoc geschaffenen Tariforganisation, welche die Dachverbände der Ärzte, der Spitäler und der Krankenversicherer umfasst. Diese Verbände hatten sich 2024 auf eine Reform geeinigt, was einen grossen Fortschritt darstellte. An der Delegiertenversammlung des Dachverbands der Ärzte hatte sich die grosse Mehrheit hinter die Reform gestellt, doch seither hört man vor allem die Minderheit. Dies auch in den Tagen vor dem Bundesratsentscheid, als unter anderem diverse Ärzte-Fachgesellschaften und der Pharmaverband Interpharma in einem Brief an die Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider einmal mehr ihrem Unmut über die geplanten Pauschalen Luft verschafften.
Ärger mit den Pauschalen
Die Einführung von Tardoc ist ein grosser Hosenlupf. Dies gilt besonders für die neuen Pauschalen. Jede Pauschale reibt sich an einem Kernproblem: Für gewisse Einzelfälle ist die Pauschale zu hoch, für andere (komplizierte) Fälle ist sie zu tief. So können gewisse Behandlungen je nach Komplexitätsgrad einige Hundert Franken oder auch Tausende von Franken kosten.
Die Gesundheitsmininisterin sowie der Berner Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg als Präsident der Tardoc-Tariforganisationen verkündeten dazu am Mittwoch vor den Medien vier Grundbotschaften: Es liege in der Natur von Pauschalen, dass deren Höhe nicht die genauen Kosten in jedem Einzelfall abbilde; wichtig sei, dass die Leistungserbringer über alles gesehen auf ihre Rechnung kämen; man gehe nicht davon aus, dass die Ärzte im Widerspruch zu ihrem Kodex nur noch finanziell lohnende Behandlungen unternähmen und den Rest an die Spitäler abschieben; wo Daten Korrekturbedarf nahelegen, sei man für Korrekturen bereit.
Eine solche Reform wird nicht geräuschlos über die Bühne gehen. «Es wird rumpeln», sagt Pierre Alan Schnegg. Das kann laut Beteiligten zum Beispiel Folgendes heissen: Manche Tarife werden sich rasch als korrekturbedürftig entpuppen, die neue Tarifstruktur löst viele Unsicherheiten und Rechtsstreitigkeiten aus, und nicht alle Akteure im Gesundheitswesen mögen mit ihren Informatiksystemen auf Anfang 2026 bereit sein.
Dauer-Baustelle
Bundesrätin Baume-Schneider sagte es diplomatisch: «Tardoc ist nicht perfekt.» Diverse Reformbefürworter sagten aber auch: Man habe schon jahrelang über die Reform diskutiert, und würde man bis zum Vorliegen eines perfekten Systems warten, wäre das derzeitige System noch jahrzehntelang in Kraft. Die Grundidee geht deshalb etwa wie folgt: Besser als eine Verschiebung auf den Sanktnimmerleinstag ist die Einführung des neuen Systems auf 2026 – gefolgt von laufenden Verbesserung aufgrund der Erfahrungen und den gesammelten Daten.
So ist eine erste Revision einschliesslich der Überarbeitung der von Fachgesellschaften kritisierten Pauschalen bereit auf Anfang 2027 vorgesehen. Unter Umständen könnte es fast jedes Jahr zu einer Revision kommen. Bundesvertreter erinnerten am Mittwoch daran, dass das 2012 eingeführte System von Fallpauschalen im stationären Spitalbereich heuer schon die Version Nummer 14 erreicht habe.
Kostendach des Bundesrats
Wegen der Asymmetrie mit lauten Verlierern und leisen Gewinnern führen Tarifrevisionen ohne flankierende Massnahmen fast unweigerlich zu einem Kostenschub. Der Bundesrat hat deshalb zu den Gesamtkosten zwei Rahmenvorgaben gemacht. Erstens: Die Tarifrevision als solche soll kostenneutral ausfallen. Und zweitens: In den Jahren nach der Einführung soll die Kostenentwicklung eine gewisse Obergrenze nicht überschreiten.
Im Grundsatz soll in einer Übergangszeit der jährliche Anstieg der Gesamtkosten der Tardoc-Leistungen 1,5 Prozent pro Einwohner bzw. 2,5 Prozent insgesamt nicht überschreiten. In «begründeten Fällen» könne diese Obergrenze auf 3 Prozent pro Einwohner bzw. 4 Prozent insgesamt erhöht werden. In der Praxis dürfte wohl die höhere Obergrenze relevant sein. So liesse sich zum Beispiel argumentieren, dass der von der Politik gewünschte Trend in Richtung ambulante Behandlungen einen im Vergleich zu anderen Kostenblöcken höheren Kostenanstieg rechtfertige. Bei Überschreitungen der Obergrenzen muss es entsprechende Kürzungen geben.
Die Übergangszeit für die Obergrenze des Kostenanstiegs soll so lange dauern, bis die Pauschalen mindestens 34 Prozent des gesamten Tardoc-Kostenvolumens ausmachen. Bei der Einführung machen die Pauschalen erst 13 Prozent aus. Die Verantwortlichen hoffen auf eine steile Lernkurve mit Erweiterungen des Umfangs der Pauschalen in den folgenden drei bis fünf Jahren. Doch wie sich die Akzeptanz der Pauschalen entwickeln wird, lässt sich derzeit nur schwer abschätzen.
Klar scheint: Tardoc soll eine Art Dauer-Baustelle werden. Sogar die Genehmigung des Bundesrats für die Einführung ist zeitlich beschränkt – bis Ende 2028, weil der Bundesrat bei gewissen Konzepten der Tariforganisation noch Zweifel hat. Das heisst nicht, dass Tardoc verschwinden soll, wenn die Zweifel der Regierung bis 2028 nicht ausgeräumt sind. Sondern eher, dass dann eine direkter Eingriff des Bundesrats zu erwarten wäre.