Montag, November 17

Nach dem Sturz des Asad-Regimes wird das Ausmass der Captagon-Produktion in Syrien offenbar. Die neuen Machthaber versprechen, hart gegen die Drogen vorzugehen. Ein Teil der Produktion dürfte sich aber ins Ausland verlagern.

Dass Bashar al-Asad im grossen Stil in der Produktion und dem Handel von Drogen aktiv war, war schon länger bekannt. Nun gibt es aber auch erstmals visuelle Beweise, die zeigen, dass das syrische Regime das Aufputschmittel Captagon in industriellem Ausmass produziert und vertrieben hat. Seit dem Sturz des Diktators gelangen aus Damaskus und anderen Städten immer mehr Fotos und Videos von Lagerhäusern und Produktionsanlagen an die Öffentlichkeit, in denen riesige Mengen Pillen mit dem charakteristischen C-Aufdruck lagern.

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Die neuen islamistischen Machthaber von Hayat Tahrir al-Sham (HTS) zeigen ausländischen Journalisten bereitwillig eine Fabrik am Rande der Hauptstadt, in der Captagon-Pillen hergestellt wurden. Die Anlage, die früher unter dem Namen Captain Corn Mais-Chips produziert hatte, wurde bis zum Sturz des Regimes streng bewacht und abgeschirmt. Nun können Reporter die Hallen in Duma besichtigen, in denen Millionen Pillen und grosse Tanks mit chemischen Vorprodukten lagern.

«HTS hat angekündigt, dass sie gegen die Captagon-Produktion hart durchgreifen werde», sagt die Expertin Caroline Rose, die am Newlines Institute in Washington seit Jahren zum Drogenhandel in Syrien forscht. Nach dem Sturz Asads habe der HTS-Chef Ahmed al-Sharaa bei seinem Auftritt in der Umayyaden-Moschee in Damaskus zugesagt, Syrien von Drogen zu säubern. Die Frage sei aber, ob die neuen islamistischen Machthaber auch die Mittel dazu hätten.

Für das Regime war Captagon eine zentrale Einnahmequelle

Zwar war das Regime der mit Abstand grösste, aber nicht der einzige Akteur in der Captagon-Produktion in Syrien. Im Süden um Daraa und Suweida habe es viele kleinere Fertigungsanlagen gegeben, die von unabhängigen Gruppen betrieben worden seien, sagt Rose. Über diese Gruppen habe die HTS keine direkte Kontrolle. Bis jetzt verfüge die HTS auch nicht über eine eigene Anti-Drogen-Einheit, die sich dem Kampf gegen die Produktion und den Schmuggel widmen könne.

Auch wird sich zeigen müssen, wie ernst es den neuen islamistischen Herrschern tatsächlich mit dem Kampf gegen die Drogen ist. Zwar habe die HTS früh verstanden, dass es ihrem Image im Ausland dienlich ist, sich als Gegner der Captagon-Produktion darzustellen, sagt Rose. In den vergangenen Jahren habe es aber auch immer wieder Berichte gegeben, dass die HTS in der von ihr kontrollierten Region Idlib Captagon-Labore toleriere und Steuern auf den Drogenhandel erhebe.

Dennoch sei davon auszugehen, dass die Produktion nicht im selben Masse weitergehen werde, sagt Rose. Das Regime hatte das Aufputschmittel zuletzt im industriellen Massstab hergestellt. Für den klammen Staat war es eine zentrale Einnahmequelle. Schon vor Jahren schätzte das Center for Operational Analysis and Research (COAR), dass Captagon das wichtigste Exportgut Syriens sei. Die kleinen weissen Pillen, mit denen Syrien die Golfstaaten und andere Länder flutete, brachten Damaskus mehrere Milliarden Dollar pro Jahr ein.

Ohne Captagon wäre Asad schon früher gestürzt worden

Mehrere Mitglieder des Asad-Clans waren direkt in die Produktion verwickelt. Insbesondere der gefürchtete Bruder des Präsidenten, General Maher al-Asad, spielte mit seiner Vierten Division eine wichtige Rolle. Asads Cousin Samer al-Asad soll den Handel in der Küstenprovinz Latakia kontrolliert haben. Die Pillen wurden lange Zeit, versteckt in Obstkisten, Elektrogeräten und anderen Gütern, über den Hafen von Latakia ausgeführt, bevor sich der Schmuggel mehr auf den Landweg via Jordanien und den Irak verlagerte.

Ohne die Einnahmen aus dem Drogenhandel wäre Asads bankrotter Staat vermutlich schon viel früher zusammengebrochen. Der Sektor war so wichtig, dass Asad trotz starkem internationalem Druck nicht darauf verzichten wollte. Als die Golfstaaten im Mai 2023 der Wiederaufnahme Syriens in die Arabische Liga zustimmten, war eine ihrer Bedingungen, dass Asad den Captagon-Schmuggel eindämmt. Doch der Diktator war nicht bereit, das lukrative Geschäft aufzugeben.

Für Saudiarabien und andere Golfstaaten stellt das illegale Aufputschmittel ein ernstes Sicherheits- und Gesundheitsproblem dar. Schon vor Jahren wurde geschätzt, dass 40 Prozent aller saudischen Männer von zwischen 12 und 25 Jahren die weissen Pillen nehmen. Das Aufputschmittel wird ebenso von reichen Jugendlichen auf Partys geschluckt wie von Studenten im Prüfungsstress und Arbeitsmigranten, die ihre Nachtschicht durchstehen wollen.

Mit dem Medikament Captagon, das ihnen den Namen gibt, haben die Pillen schon lange nichts mehr zu tun. Der deutsche Pharmakonzern Degussa hatte es zur Behandlung von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) entwickelt, doch wurde es 1986 wegen schwerer Nebenwirkungen vom Markt genommen. Heute findet sich der ursprüngliche Wirkstoff Fenetyllin kaum mehr in den Pillen. Die meisten enthalten stattdessen eine Mischung verschiedener Wirkstoffe wie Koffein, Chinin, Theophyllin und Chloroquin.

Die Entsorgung der Pillen ist eine riesige Aufgabe

Die Aufdeckung der Captagon-Fabriken sei eine gute Gelegenheit, die Pillen auf ihre Inhaltsstoffe zu testen, sagt die Expertin Rose. Für die Konsumenten sei es wichtig, zu wissen, was genau sie konsumieren. In der Anlage in Duma seien vermutlich zwei Typen Pillen mit unterschiedlicher Zusammensetzung hergestellt worden, sagt Rose. Aus ihrer Sicht wäre es am besten, wenn Experten der Uno mithelfen würden, die Captagon-Bestände zu untersuchen und bei der Demontage der Anlagen und der Entsorgung der Drogen und der Chemikalien zu helfen.

Mit dem Aus für die Captagon-Produktion in Syrien wird es nun einen starken Rückgang des Angebots geben. Vermutlich existieren zwar einige Bestände ausserhalb Syriens, doch erfolgte der Sturz des Regimes so unerwartet, dass die Händler kaum Zeit hatten, grössere Lager anzulegen. Da die Nachfrage gleich bleiben wird, dürften nun die Preise auf dem Markt steigen. Für andere Produzenten sei dies eine Chance, die eigene Produktion zu erhöhen, sagt Rose.

In den vergangenen Jahren hat sich ein Teil der Drogenlabore von Syrien in Nachbarländer wie den Irak, die Türkei, Kuwait und Ägypten verlagert. Sie könnten nun einspringen. Auch die libanesische Hizbullah-Miliz, die seit langem im Drogenhandel aktiv ist, könnte einen Teil des Marktes übernehmen. Allerdings dürfte der Hizbullah vorsichtig sein dabei, grössere Fabriken in Libanon aufzubauen, da diese leicht zum Ziel israelischer Luftangriffe werden könnten, sagt Rose.

Was nun mit den riesigen Captagon-Beständen in Syrien passiert, ist offen. Ein Lager auf dem Damaszener Militärflughafen Mezze wurde vermutlich durch einen israelischen Luftangriff zerstört. Andere Lager wurden von den Betreibern in Brand gesteckt, bevor sie die Flucht ergriffen. Videos im Internet zeigen zudem, wie Anwohner Pillen in die Kanalisation kippen. Um die riesigen Vorräte in der Fabrik in Duma zu entsorgen, wird es aber weitere Anstrengungen brauchen. Und die grössten Anlagen sind womöglich noch gar nicht entdeckt worden.

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