Freitag, Oktober 18

Der aserbaidschanische Autokrat Ilham Alijew hält Pseudowahlen ab und verfolgt seine Gegner so hart wie lange nicht mehr. Sein Erfolg im Karabach-Krieg hat innenpolitisch aber auch eine Kehrseite.

Jeder Triumph hat auch seine Tücken. Zwanzig Jahre ist Ilham Alijew unangefochten Präsident der Südkaukasus-Republik Aserbaidschan am Kaspischen Meer. Pünktlich zu diesem Jubiläum im vergangenen Herbst erreichte er, was er und davor schon sein Vater, von dem er das Amt geerbt hatte, seit dem Zerfall der Sowjetunion angestrebt hatten: Nagorni Karabach, die armenisch besiedelte Enklave, wurde Teil Aserbaidschans. In zwei Kriegen 2020 und 2023 zerschlugen Alijews Truppen die international nicht anerkannte Republik Nagorni Karabach und vertrieben die dort ansässigen ethnischen Armenier. Alijew kostete den Sieg im Herbst in Stepanakert aus, vor der Kulisse einer Geisterstadt. Aber was kommt jetzt, nach der Erfüllung dieses Traums?

Abhängig von der nationalistischen Rhetorik

Alijews Popularität hat seit der «Rückholung» Karabachs noch zugenommen. Wahrscheinlich hat er aus diesem Grund die Präsidentschaftswahl um ein Jahr auf den 7. Februar vorgezogen. Die geopolitischen Umstände sind turbulent, Aserbaidschan wird vom Westen und von Russland umworben, ist aber auch überdurchschnittlich abhängig von deren Gunst und von den Rohstoffmärkten. Schnelle Wendungen des Schicksals sind da nicht auszuschliessen.

Der Sieg gegen Armenien wird Alijew nicht ewig tragen, vor allem nicht, wenn daraus kein gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Schub im Innern folgt und Erwartungen enttäuscht werden. So erfolgt die Rückkehr der Vertriebenen in die im Karabach-Krieg 2020 zurückeroberten Bezirke schleppend, auch weil es dort an Arbeitsplätzen mangelt. Für die drei Jahrzehnte lang alles zusammenhaltende «nationale Idee» von der Integration Karabachs in den aserbaidschanischen Staat braucht es Ersatz.

Aserbaidschanische Beobachter sind skeptisch, wie das gelingen könnte. Im vergangenen Herbst sagte der Historiker und Leiter des unabhängigen Baku Research Institute, Altay Goyushov, gegenüber dem Onlinedienst von Radio Liberty, eine Abkehr von der gegen Armenien gerichteten Schärfe sei nicht erkennbar. Die Kriegsrhetorik sei das, was Alijew jahrelang Erfolg gebracht habe; deshalb halte er vorläufig daran fest. Goyushov verwies auf den sogenannten Sangesur-Korridor: die Forderung an Armenien, Aserbaidschan eine unkontrollierte Route durch Südarmenien in die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan zu gewähren.

Drohungen gegenüber Armenien

Es ist auffällig, dass Alijew in den vergangenen Wochen wieder verstärkt diese Forderung in den Vordergrund rückte und auch weitere territoriale Ansprüche an Armenien geltend machte. In einem Interview mit aserbaidschanischen Fernsehsendern zeigte er keinerlei Bereitschaft, sich von Territorien an der Grenze zurückzuziehen, die Aserbaidschan seit einem kurzen Waffengang im Herbst 2022 kontrolliert.

Die Besetzung strategisch wichtiger Höhen bedeutet für Armenien eine ständige Bedrohung der Verkehrsachse von Erewan in den Süden des Landes bis an die für die Versorgung wichtige iranische Grenze. Alijew besteht auch auf die Übergabe von Dörfern, die zu sowjetischer Zeit verwaltungsrechtlich zu Aserbaidschan gehört hatten und heute ebenfalls an strategisch wichtigen Routen im Innern Armeniens liegen. Das Beharren auf diesen Forderungen bestätigte all diejenigen, die die Ankündigungen über eine kurz bevorstehende Einigung auf einen Friedensvertrag zwischen Armenien und Aserbaidschan für voreilig gehalten hatten.

Dass Alijew in dem Interview ausgiebig Erewans angeblich aserbaidschanisches Erbe betonte, dient der Suche nach Versöhnung zwischen Armenien und Aserbaidschan ebenso wenig wie die Bezeichnung Südarmeniens als «Westaserbaidschan». Nach der Einverleibung Karabachs wendet sich Alijew für die Befriedigung der nationalistischen Träume ganz Armenien zu.

Ablenkung von innenpolitischen Problemen

Wie in all den Jahrzehnten davor dient diese Mobilisierung auch der Ablenkung. Innenpolitisch hat Alijew zwar auf den ersten Blick nichts zu befürchten. Die Kriege und Spannungen rund um Karabach seit 2020 lähmten die ohnehin schwachen Regimegegner und sammelten die Bevölkerung hinter ihm. Die Opposition boykottiert, wie schon in früheren Fällen, die Wahlen. Trotzdem geht die Führung so hart wie lange nicht mehr gegen oppositionell gesinnte Journalisten und Aktivisten vor – womöglich gerade deshalb, weil sie weiss, dass nach dem Karabach-Triumph härtere Zeiten auf sie zukommen könnten. Wirtschaftlich ist Aserbaidschan gemächlicher unterwegs als seine Nachbarn, die Rohstoffabhängigkeit macht das Land krisenanfällig, der soziale Druck dürfte zunehmen.

Die neue Repressionswelle begann während des kurzen Karabach-Kriegs im September, als die Behörden auf Antikriegsäusserungen in den sozialen Netzwerken mit Festnahmen reagierten. Seither sind mindestens ein Dutzend Journalisten und Aktivisten unter Vorwänden wie Drogenbesitz oder Veruntreuung inhaftiert und Medien zerschlagen worden. Bereits im Sommer war der auch international bekannte Ökonom und Oppositionspolitiker Gubad Ibadoglu festgesetzt worden. Seine Frau berichtete von Folter in der Haft; sie und die Tochter befürchten für Ibadoglu das Schlimmste.

Die Vorwürfe gegen die Aktivisten sind zum Teil auch antiwestlich motiviert; es ist von westlicher Unterwanderung oder gar Spionage die Rede. Alijew wolle das Land isolieren, meinte einer der Führer der Opposition, Ali Karimli, bei der Ankündigung der vorgezogenen Präsidentschaftswahl. Deshalb trete er jetzt antiwestlich auf. Der Grund liegt wohl in Alijews Verstimmung über die scharfe – aber zahnlose – westliche Kritik am jüngsten Karabach-Krieg, der mit der Flucht der gesamten armenischstämmigen Bevölkerung aus dem Bergland endete, und über westliche politische und rüstungstechnische Unterstützung für Armenien.

Im Streit mit dem Westen

Dem Westen wirft Alijew auch zweierlei Mass vor. Die Entscheidung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, Aserbaidschan wegen eklatanter Nichterfüllung seiner Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte vorläufig von der Teilnahme auszuschliessen, dürfte Baku darin bestärkt haben. Noch im Sommer 2022 hatte die Reise der EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen zu Alijew signalisiert, die EU sei zu einer Neubewertung der Beziehungen zum autokratischen Regime bereit, um als Ersatz für das nicht mehr fliessende russische Erdgas die Rohstoffe aus Aserbaidschan zu beziehen.

Aserbaidschans geopolitische Bedeutung hat durch Russlands Krieg gegen die Ukraine nochmals zugenommen. Nicht nur der Westen versuchte Alijew zunächst zu umgarnen. Russland ist in den vergangenen Jahren näher an Baku herangerückt, im gleichen Masse, wie sich die Beziehungen zum langjährigen engen Partner Armenien abgekühlt haben. Russlands Verhältnis zur Türkei, Alijews wichtigster Stütze, spielt da hinein, aber auch die Möglichkeit der Umgehung westlicher Sanktionen. Gegenüber Iran, das mit Aserbaidschan in einem spannungsvollen Verhältnis liegt, nicht zuletzt wegen dessen latenter territorialer Ansprüche, erreichte Baku in den vergangenen Monaten eine Annäherung.

Im kommenden Herbst wird das Alijew-Regime die nächste internationale Klimakonferenz ausrichten. Die Repression schadet dem internationalen Ansehen offenbar nicht wirklich. Aber der Autokrat muss sich ein Stück weit neu erfinden, damit die Tücken des Triumphs in Karabach nicht überwiegen.

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