Ashley aus South Carolina hat mit Abnehmspritzen 50 Kilogramm verloren. Wenige Kilometer von ihrem Haus entfernt produziert SHL Medical die Autoinjektoren für das Wundermittel. Eine Reportage aus einem Gliedstaat, in dem fast jeder Zweite übergewichtig ist.

Ashley steht in der Küche und bereitet eine Snack-Platte vor: Cracker, Käse, Salami, Tomaten, Oliven, Limonade. «Help yourself», sagt sie dem Besuch. Sie trägt ein rotes Kleid mit Blumenprint, passend zur Jahreszeit. In Charleston, wo sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in einer Vorstadtsiedlung lebt, hält der Frühling Einzug. Rund um ihr Haus blühen Glyzinien. Sie hat ein paar der lilafarbenen Blumen gepflückt und in einer Vase drapiert, die auf dem Tisch steht. «Wunderschön, nicht?»

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Sie selbst wird nichts vom Apéro essen. Seit sie sich einmal wöchentlich eine Abnehmspritze injiziert, hat sie kaum noch Hunger.

Zepbound, Wegovy und Saxenda heissen diese Medikamente. Sie verlängern das Sättigungsgefühl und beeinflussen die Regulation des Appetits im Hirn. Bis zu 20 Prozent des Körpergewichts kann man mit diesen Medikamenten abspecken. In South Carolina, wo knapp 40 Prozent der Bevölkerung stark übergewichtig ist, ist die Nachfrage nach diesen Medikamenten besonders hoch.

50 Kilogramm in acht Monaten

Ashley, 38 Jahre alt, begann mit der Behandlung letzten Sommer. Damals wog sie 122 Kilogramm bei einer Körpergrösse von 1,58 Metern. Seither hat sie 50 Kilogramm abgenommen. «Ich musste etwas ändern, sonst hätte ich irgendwann ernsthafte Gesundheitsprobleme bekommen», sagt sie.

Ashley war nicht immer übergewichtig. Sie wuchs in einer Familie auf, die sich vorbildlich ernährte. Die Eltern hatten einen grossen Garten mit Obstbäumen und Gemüse. Alkohol tranken sie aus religiösen Gründen keinen. Erst als Ashley mit 20 Jahren ihr Studium an der Universität aufnahm, kam sie mit Fast Food und Alkohol in Berührung – und begann zuzunehmen.

Sie habe es aber mit gesunder Ernährung und Sport immer wieder geschafft, abzunehmen. In den letzten Jahren sei ihr das nicht mehr gelungen. Während ihren Schwangerschaften nahm sie stark zu, und in den darauffolgenden fünf Jahren kamen noch 20 Kilogramm dazu.

Anfang letztes Jahr diagnostizierten die Ärzte eine Schilddrüsenunterfunktion. «Sie sagten mir, dass ich es nie schaffen werde, mein Übergewicht ohne Medikamente in den Griff zu bekommen», sagt Ashley.

Als sie sich kurz nach der Diagnose dann auch noch das Kreuzband bei der Gartenarbeit riss, sah sie nur noch eine Behandlung mit Abnehmspritzen als Ausweg. Sie hatte eine Operation vor sich und würde sich danach monatelang nur eingeschränkt bewegen können. Das hiess: noch mehr Kilos auf der Waage.

Ashley bekam es mit der Angst zu tun. Was, wenn sie wegen ihres starken Übergewichts eine Herz-Kreislauf-Erkrankung entwickelte? «Ich habe zwei kleine Kinder, mein Sohn leidet an Autismus, ich kann nicht frühzeitig sterben», sagt Ashley.

Am Anfang der Behandlung sei ihr oft übel gewesen und Durchfall habe sie auch gehabt. Der Arzt riet ihr, die Dosis zu reduzieren. Das half – und die Kilos purzelten.

Parallel zur medikamentösen Behandlung begann Ashley mit einer karnivoren Diät. Bis heute isst sie nur noch Fisch und Fleisch. Das habe ihr ein Ernährungsberater wegen ihrer Schilddrüsenunterfunktion geraten. Dass diese Art der Ernährung umstritten ist und die meisten Ärzte davon abraten, ist sie sich bewusst. «Für mich funktioniert es bis jetzt gut», sagt sie.

Ihre Lebensqualität habe sich seit dem Gewichtsverlust erheblich verbessert. «Endlich kann ich mit meinen Kindern wieder am Strand herumtollen. Davor bin ich nur noch im Liegestuhl gesessen und habe zugeschaut», sagt sie. Bei jeder noch so kleinen körperlichen Anstrengung sei sie sofort ausser Atem geraten.

Sie nimmt die Verpackung mit dem Abnehm-Medikament aus dem Kühlschrank, packt den Autoinjektor aus und setzt ihn auf ihrem Oberarm an. Sie betätigt den Auslöser. Es klickt. Sie wartet einen Moment, bis die gesamte Dosis injiziert ist, und wirft ihn dann in den Abfall. «Schon gemacht. Das hält jetzt wieder eine Woche», sagt Ashley.

Schweizer Firma wittert Goldgräber-Stimmung

Nur 15 Kilometer von Ashleys Haus entfernt produziert die Zuger Medtech-Firma SHL Medical Autoinjektoren für Abnehmmedikamente. Ulrich Fässler ist CEO und Verwaltungsratspräsident des Unternehmens und lädt zur Eröffnung des neuen Werks. Bei der Willkommensrede sagt er: «Roger und ich haben im Jahr 2021 innerhalb von 15 Minuten entschieden, dass wir die Fabrik in den USA bereits drei Jahre früher in Betrieb nehmen werden als geplant.»

Roger ist der Schwede Roger Samuelsson, der SHL Medical 1989 in Taiwan gegründet hat. Er sitzt im Publikum und nickt zustimmend. Im Gegensatz zu allen anderen Firmenvertretern ist er sportlicher angezogen: Jackett, Jeans, Turnschuhe und farbige Socken. Laut Forbes ist Samuelsson mehrfacher Milliardär und interessiert sich für schnelle Autos.

Er hat sich aus dem operativen Geschäft und der Öffentlichkeit weitestgehend zurückgezogen. Im Jahr 2018 hat er die Geschäftsleitung an seinen Freund und langjährigen Weggefährten Ulrich Fässler übergeben. Der Appenzeller hat den Firmensitz von Taiwan in den Kanton Zug verlegt.

6 Milliarden Dollar Umsatz hat die Pharmaindustrie laut Morgan Stanley allein im Jahr 2023 mit Abnehmspritzen erwirtschaftet. Bis im Jahr 2030 wird das Marktpotenzial gemäss Schätzungen bis zu 144 Milliarden Dollar betragen. Davon profitiert auch SHL Medical. In Branchenkreisen ist es ein offenes Geheimnis, dass das dänische Pharmaunternehmen Novo Nordisk, das Wegovy herstellt, zum Kundenkreis gehört.

Übergewicht ist eine Volkskrankheit, an der Millionen Menschen leiden. Noch nie hat es ein Medikament gegen eine Krankheit gegeben, von der so viele betroffen sind. Das bescherte SHL Medical in den letzten zwei Jahren Wachstumsraten im zweistelligen Bereich. Im Jahr 2020 ist das Unternehmen sogar um 60 Prozent gewachsen, was vor allem mit der Zulassung von Medikamenten wie Wegovy in den USA zu tun hatte.

Ulrich Fässler sagt: «Das Volumenwachstum, welches wir mit der Herstellung von Autoinjektoren für diese Medikamente erzielen, ist immens.» Er rechnet damit, dass Autoinjektoren für Abnehmmedikamente in den nächsten drei Jahren 40 bis 50 Prozent des Produktionsvolumens ausmachen werden und etwa 30 bis 40 Prozent des Umsatzes.

SHL Medical hat also allen Grund zum Feiern, und genau das tut man an der Werkeröffnung in South Carolina. Zum Eventauftakt spielen drei junge Saxofonspieler die amerikanische Hymne. Hinter dem Rednerpult auf der Bühne hängt die amerikanische Flagge und die des Gliedstaates South Carolina. Der Gouverneur von South Carolina, der Bürgermeister von North Charleston und der Schweizer Generalkonsul Urs Brönnimann halten Reden, loben die Innovationskraft des Unternehmens.

Kunden, Geschäftspartner und Medienvertreter bestaunen auf der Besichtigung der Fabrik die Maschinen. Die Prozesse sind hoch automatisiert. Spritzgussmaschinen schmelzen Kunststoffgranulat und formen daraus die Bestandteile der Autoinjektoren. Roboterfinger greifen nach den Komponenten und legen sie auf Förderbänder. An der Decke der Fabrikhalle befindet sich ein Logistiksystem, das die Bestandteile der Autoinjektoren in Behältern auf Schienen ins Lager bringt und anschliessend zur Montage. 220 Millionen Dollar hat der Bau der Fabrik gekostet, und 300 Mitarbeiter arbeiten hier.

Bei aller Euphorie um die Abnehmspritzen ist es Ulrich Fässler ein Anliegen, dass Medikamente wie Wegovy als Prävention gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen betrachtet werden. «Das sind keine Lifestyle-Medikamente, um einfach schnell abzunehmen», sagt er. Nur so könnten Krankenversicherungen davon überzeugt werden, für die Medikamente zu bezahlen.

Kopieren verboten

Mit dieser Aussage spricht Fässler ein Thema an, über das in der amerikanischen Gesellschaft derzeit heftig debattiert wird. Denn anders als in der Schweiz übernehmen in den USA viele Krankenversicherungen die Kosten für solche Medikamente selbst bei schwerem Übergewicht nicht.

Beteiligt sich eine Versicherung an den Kosten, gibt es erhebliche Unterschiede, wie viel der Patient selbst noch aus dem eigenen Portemonnaie bezahlen muss. Ashley gehört zu den Glücklichen, die über den Arbeitgeber ihres Mannes von einer hervorragenden Versicherungsdeckung profitieren.

Sie bezahlt monatlich 149 Dollar für die Mitgliedschaft bei der Telemedizin-Plattform, bei der sie die Medikamente bezieht. Für das Medikament selbst bezahlt sie nur 24.99 Dollar aus dem eigenen Sack. Ohne Versicherungsdeckung kostet Zepbound bis zu 1000 Dollar pro Monat, Wegovy sogar bis zu 1350 Dollar. Zum Vergleich: In der Schweiz bezahlen Patienten für Wegovy zirka 190 Franken pro Monat.

«Die meisten meiner Freundinnen besorgen sich in den Apotheken Nachahmerprodukte, weil sie sich die Originalpräparate nicht leisten können», sagt Ashley. Kleine Pharmahersteller oder speziell dafür lizenzierte Apotheken stellen solche Produkte her und verkaufen diese für 300 bis 500 Dollar. Das ist auch teuer, aber für den Mittelstand erschwinglich.

Die Regierung in Washington hat die Produktion von solchen Produkten im Jahr 2022 erlaubt, weil damals die Nachfrage das Angebot bei weitem überstieg. Mittlerweile haben die Pharmafirmen ihre Produktion hochgefahren und erfolgreich gegen die Nachahmerprodukte lobbyiert. Kopien von Zepbound sind seit März 2025 verboten, ab April dürfen auch keine Ersatzpräparate für Wegovy mehr hergestellt werden. Die amerikanische Zulassungsbehörde für Medikamente (FDA) begründet die Gesetzesänderung mit Sicherheitsbedenken. «Meine Freundinnen stocken derzeit gerade ihre Vorräte auf», sagt Ashley.

Sorgt die Regierung in Washington dafür, dass das Verbot von Nachahmerprodukten durchgesetzt wird, werden in den nächsten Monaten viele Patienten die Medikamente absetzen müssen, weil sie sich diese nicht mehr leisten können.

Dann kommt es zum ultimativen Stresstest: Werden sie ihr Gewicht halten?

Food-Mekka und Lebensmittelwüsten

Neil McDevitt ist Chirurg beim Novant Health Hospital und auf Magenbypass- und Magenverkleinerungsoperationen spezialisiert und betreut auch Patienten, denen Abnehmspritzen verschrieben wurden. Nach einem strengen Vormittag im OP betritt er ein Café im Stadtzentrum von Charleston, das sich zwischen opulenten Gebäuden aus der viktorianischen Ära befindet. Er sagt: «Das Gewicht zu halten, ist die grösste Herausforderung beim Abnehmen.»

Viele Menschen mit starkem Übergewicht hätten längst das Gespür verloren, zwischen wirklichem Hunger und blossen Gelüsten zu unterscheiden. Für Patienten, die Abnehmmedikamente einnähmen, sei es entscheidend, diese Fähigkeit wieder zu erlernen. Andernfalls drohe eine erneute Gewichtszunahme, sobald sie die Medikamente absetzen.

Das ist gar nicht so einfach. Kulinarische Verführungen lauern überall – besonders in den Südstaaten der USA. Essen ist hier ein Kulturgut. «Charleston ist das beste Beispiel dafür», sagt McDevitt, «mit seinen unzähligen Restaurants, Cafés und Bars gilt es als Food-Mekka von South Carolina.»

Die Küche ist gut, aber oft ungesund. An den Nachbartischen im Café schlürfen junge Frauen Eistee aus Plastikbechern. In den Südstaaten geniesst man ihn gerne mit viel Zucker. Dazu gibt es Pekannuss-Kuchen. «Viele Menschen sind hier noch sehr traditionell eingestellt. Das gesellige Beisammensein mit der Familie und Freunden ist wichtig, und ein üppiges Barbecue gehört da einfach dazu», sagt McDevitt.

Doch nicht überall in South Carolina sind Lebensmittel so zahlreich vorhanden wie in der Innenstadt von Charleston. Wie in allen Südstaaten gibt es auch in South Carolina viele ländliche Gegenden, die als sogenannte Lebensmittelwüsten gelten. In diesen Regionen ist die Zugänglichkeit zu frischen Lebensmitteln deutlich eingeschränkt, weil der nächste Laden mindestens 16 Kilometer entfernt liegt. Die Fahrt zur nächstgelegenen Tankstelle ist meistens kürzer. Allerdings verkauft diese vor allem Junk-Food wie Chips oder sonstige verarbeitete Lebensmittel.

«Viele Menschen haben Mühe, diese Hürden zu überwinden, die den USA eigen sind», sagt McDevitt. Manchen fehlt schlicht das Geld, um aus einer Lebensmittelwüste wegzuziehen.

Und trotzdem: «Ohne ausgewogene Ernährung mit Protein, Fett, Kohlenhydraten und ausreichend Bewegung wird es schwierig, nachhaltig abzunehmen – Medikamente hin oder her», sagt McDevitt.

Alle seine Patienten, die Abnehmmedikamente nehmen, müssen regelmässig in die Sprechstunde kommen und sich von einem Ernährungsberater begleiten lassen. McDevitt empfiehlt zudem, einen Fitnesstrainer und einen Psychotherapeuten beizuziehen.

Anders als in der Schweiz ist der Beizug eines Ernährungsberaters in den USA allerdings nicht vorgeschrieben. Daher befürchtet McDevitt, dass es zu Missbrauch kommen könnte. «Unseriöse Ärzte oder Gewichtsreduktionszentren könnten die Medikamente ohne Begleitmassnahmen verschreiben. Einige sind nur daran interessiert, möglichst viel und lange Geld damit zu verdienen», sagt er.

Allgemein ist der Gesundheitsmarkt in den USA viel weniger stark reguliert als in der Schweiz. Pharmafirmen dürfen zum Beispiel im TV und auf Streamingplattformen für verschreibungspflichtige Medikamente werben. Das weckt bei den Menschen Begehrlichkeiten.

Aber auch Ashley ist sich bewusst, dass es keine Lösung ist, das Medikament ein Leben lang einzunehmen. Deshalb hat sie damit begonnen, die Dosis zu reduzieren. Tatsächlich hat sich ihr Hungergefühl seither wieder verstärkt. «Jetzt muss ich mich noch stärker disziplinieren.» Denn ganz am Ziel ist sie noch nicht. Gerne würde sie noch weitere zehn Kilogramm abnehmen.

Exit mobile version