Die Aktien des Chipzulieferers notieren nach dem enttäuschenden Quartalsbericht aus den Niederlanden auf Jahrestief. Ausserdem: Accelleron schreibt Schweizer Börsengeschichte, Richemont und Swatch Group in Sippenhaft, Holcims Spin-off könnte noch attraktiver werden – und noch ein Wort zu Tecan.
Geschätzte Leserin, geschätzter Leser
Die Börsenwoche hat es in sich, wie Sie wahrscheinlich wissen und gleich noch lesen werden. Aber beginnen wir für einmal mit den guten Neuigkeiten von der Schweizer Börse: Die Rally von Accelleron geht weiter, die Aktien des Herstellers von Turboladern erreichten am Dienstag mit 47.38 Fr. ein neues Höchst.
Anfang Oktober feierte Accelleron ihren zweijährigen Börsengeburtstag, in dieser Zeit hat sich der Börsenwert verzweieinhalbfacht. Aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, aber der Eröffnungskurs lag mit 18 Fr. noch unter dem Ausgabepreis von 21 Fr. – auch Kleinaktionäre kommen für einmal sehr gut weg. Damit sind die Badener wohl der erfolgreichste Neuzugang in der Geschichte der Schweizer Börse.
Klar für diesen Erfolg musste viel zusammenkommen. Operativ hat Accelleron wohl auch Branchenkenner überrascht, das Geschäft mit Turboladern boomte in den vergangenen Jahren geradezu. Die Werften sind ausgelastet, überdurchschnittliche viele Schiffe mussten sich zuletzt Grossrevisionen unterziehen. Auslöser des jüngsten Kursanstiegs war die Erhöhung des Kursziels durch UBS von 47 auf 51.80 Fr. Analyst Sebastian Vogel verweist auf die nochmals verbesserten Aussichten für die Schifffahrt: Das Wachstum setze sich fort, wovon auch Accelleron dank dem weltweit führenden Marktanteil bei Turboladern für solche Schiffe profitieren soll.
Das Spin-off ging aber auch lehrbuchmässig über die Bühne. Investorinnen war die Turboladersparte von ABB als Filetstück und Cashmaschine bereits bekannt, das bedächtige Management blieb an Bord. Und dieses hat den Investment Case in Ingenieur-typischer Manier von Beginn weg gut erklärt, jedoch nie überverkauft: Die Börse – ich inklusive – erwartete ein solides Geschäft in einem reifen Markt mit strukturellen Treibern, aber ohne übermässige Wachstumsaussichten. Die Aktionäre würden stattdessen mit Beständigkeit und einer hübschen Dividende entlöhnt.
Heute zeigt sich: Accelleron kann weit mehr sein als das. Aus meiner Sicht überzeugend ist neben der dominanten Marktposition vor allem der heutige Serviceanteil am Umsatz. Die lange Betriebsdauer der Motoren, beispielsweise in der Frachtschifffahrt, bewirkt, dass der Kunde nach Angaben von Accelleron über den gesamten Lebenszyklus nochmals drei- bis viermal so viel ausgibt, wie er für den Turbolader bezahlt hat. Von der Konkurrenz unterscheidet sie sich dank den mehr als hundert Stützpunkten rund um den Globus; in weniger als 48 Stunden will man jedem Kunden bei jedem Problem helfen können – egal wie weit weg von der Küste sich dieser gerade befindet.
Diese Ausgangslage macht die Aktien auch dann noch attraktiv, wenn sich der Boom der vergangenen Jahre etwas legt und sich das Geschäft, wie CEO Daniel Bischofberger erwartet, normalisiert. Aber kann es mit den Aktien trotzdem so weitergehen? Ein Investor sagte mir zur Marktreaktion vom Dienstag, es werde langsam unheimlich. Und ganz ehrlich: Niemand könnte sich im Nachhinein einen Vorwurf machen, wenn er oder sie jetzt Gewinne mitnimmt. Die Bewertung hat sich mit dem Aktienkurs ganz schön ausgedehnt. Aber sowohl der Trend als auch die fundamentalen Daten sind stark. Und nur schon, um an dieser Geschichte dranzubleiben, bleibe ich nach dem Rebalancing investiert.
Am Dienstagabend enttäuschte LVMH mit ihren Zahlen zum dritten Quartal: Der Umsatz ging organisch 3% zurück und lag damit deutlich unter den Erwartungen des Markts, insbesondere die schlechte Konsumstimmung in China und Japan belastete. Insgesamt nahm der weltweit grösste Luxusgüterkonzern 19,08 Mrd. € ein und schrumpfte damit erstmals seit der Pandemie, Analysten hatten dagegen im Schnitt mit einem Wachstum von rund 2% gerechnet.
Der Aktienmarkt reagierte am Mittwoch wenig überraschend negativ, die Titel von LVMH fielen 4%, und nahmen die Schweizer Luxusgütertitel Richemont und Swatch Group in Sippenhaft, wobei das Minus noch gemässigt ausfiel. Aber der Kontrast zu Ende September könnte nicht grösser sein. Kurzzeitig hatte vor rund zwei Wochen, in einem ohnehin schon nervösen Markt, die Hoffnungen auf Stimulusmassnahmen und ein Anziehen der Konjunktur in China für Aufatmen und eine kleine Rally bei Swatch Group gesorgt.
So aber bleibt längerfristig betrachtet ein Abwärtstrend – nicht nur an der Börse. Von der Shoppinglust im Nachgang der Pandemie war schon vergangenes Jahr wenig zu spüren und jetzt verdichten sich die Hinweise, dass die Krise noch nicht überstanden ist. Besonders hart trifft es die Mode und Lederwaren, zu der die Marken Louis Vuitton und Dior gehören. LVMH verzeichnete in diesem Bereich einen Umsatzrückgang von 5%, was deutlich unter den Konsenserwartungen von 4% Wachstum lag und den ersten Rückgang in diesem Bereich seit 2020 darstellt.
Das sind insgesamt keine guten Neuigkeiten für Richemont und Swatch Group. Doch es gibt eine halbwegs positive Entwicklung: Im Bereich Hard Luxury, bei Uhren und Schmuck also, konnte LVMH die niedrigen Erwartungen erfüllen, der Umsatz ging wie befürchtet rund 4% zurück, aber immerhin nicht mehr. Und zumindest Richemont hat in den vergangenen Quartalen bewiesen, dass Cartier bei den Kundinnen und Kunden immer noch sehr gut ankommt. Was mitunter damit zusammenhängen könnte, dass die Schweizer anders als gerade LVMH die Preise in den vergangenen Jahren verhältnismässig wenig erhöht hat, wie ich vergangene Woche zeigte.
Nichtsdestotrotz: Das schlechte Abschneiden von LVMH, in dem sich neu auch eine Schwäche im wichtigen Markt Japan spiegelt, die immer wieder enttäuschten Hoffnungen auf eine Erholung in China und die jüngsten Ausschläge am Aktienmarkt zeigen, dass im Luxusgütersektor zur Zeit definitiv ein rauerer Wind weht. Richemont ist in diesem Umfeld wohl aber mittlerweile am besten positioniert. Ich bin gespannt auf die Publikation der Halbjahreszahlen am 8. November.
Apropos Marktreaktion: Am Dienstagnachmittag schmierten an der Schweizer Börse plötzlich die Tech-Werte ab. Halbleiterzuliefereraktien wie VAT Group, Inficon und Comet traf es besonders hart, aber auch die Titel von Logitech, davor noch unter den Besten im Swiss Market Index, drehten plötzlich. Was war passiert?
Ausgelöst wurde das kleine Börsenbeben in den Niederlanden. Mitten im Handel leakten die Quartalszahlen von ASML. Wobei niemand die Pressemitteilung entwendet hatte, vielmehr hatte wohl eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter beim Hersteller von Halbleiterequipment versehentlich den «Publizieren»-Knopf gedrückt, die Veröffentlichung des Berichts wäre für Mittwoch geplant gewesen.
An den Fakten änderte das natürlich nichts, und die haben es in sich: Der Ausblick für 2025 enttäuscht. ASML rechnet neu mit einem Gesamtumsatz von 30 Mrd. bis 35 Mrd. €, was klar am unteren Ende der bisherigen Prognose und unter den Markterwartungen von 36 Mrd. liegt. Das spiegelt sich im schwachen Auftragseingang: Der fiel mit 2,6 Mrd. € im dritten Quartal deutlich niedriger aus als die erwarteten knapp 5,4 Mrd.
Die Aktien verloren noch am Dienstagabend gegen 16% an Wert, das grösste Minus in Jahrzehnten. Auch die Branchennachbarn Applied Materials (–11%), Lam Research (–11%) und KLA (–15%) erlitten grössere Einbussen, Nvidia (–4,7%), AMD (–5,2%) und Broadcom (–3,5%) folgten.
Global betrachtet wurde gemäss Berechnungen von Bloomberg im Chipsegment Börsenwert von mehr als 420 Mrd. $ vernichtet. Damit geht das Auf und Ab im Sektor weiter. ASML gilt aufgrund ihrer Quasi-Monopolstellung bei Anlagen für die grossen Chiphersteller und Hauptkunden Intel, TSMC und Samsung Electronics als Gradmesser für den Zustand der Branche. Mit ein Grund für die Warnung dürften denn auch Budgetkürzungen von Intel sein, wie Sie im neusten «The Pulse» von meinem Kollegen Christoph Gisiger lesen können.
Die Aktien von VAT fielen im Sog von ASML auf ein neues Jahrestief bei weniger als 383 Fr., stabilisierten sich aber am Mittwoch bereits. Das ist wenig verwunderlich, werden die Vakuumlösungen der Ostschweizer doch auch in den ASML-Lithografiemaschinen verbaut. Die kommenden Monate werden angesichts der Unsicherheit rund um die Investitionen im Halbleitersektor weiterhin holprig ausfallen und erneute Rückschläge sind je nach Neuigkeiten wahrscheinlich.
Auf die mittlere bis lange Frist habe ich keine Zweifel, dass die Nachfrage nach Produkten von VAT klar nach oben zeigt, das strukturelle Wachstum im Sektor ist intakt, der Trend – abzulesen am Auftragseingang – zeigte für den Schweizer Zulieferer zuletzt klar nach oben. Auf dem jetzigen Niveau macht das die Aktien für Investorinnen mit Geduld attraktiv.
Holcim erwägt angeblich eine doppelte Kotierung für ihr Nordamerikageschäft, das der Baukonzern noch im ersten Halbjahr 2025 abspalten will. Das zumindest will die Nachrichtenagentur Bloomberg herausgefunden haben, die dabei auf mit der Angelegenheit vertraute Personen verweist. Noch handelt es sich nur um Gerüchte, ein Sprecher von Holcim wollte sie nicht bestätigen.
Aber wie ich höre, würde eine solche Zweitkotierung ein zentrales Problem von Schweizer Investoren bei Holcim lösen: Sie könnten am Spin-off beteiligt bleiben, müssten aber keine US-Aktien halten, was vielen untersagt ist. Das ist durchaus bedeutsam, machen die in der Schweiz domizilierten Eigentümerinnen gemäss Halbjahresbericht immerhin rund 30% des Gesamtaktionariats aus.
Spannend ist auch die Schätzung für die Bewertung der US-Einheit, die Bloomberg ins Spiel bringt: Rund 30 Mrd. bis 50 Mrd. $ soll sie nach der Abspaltung an der Börse wert sein. CEO Jan Jenisch sieht die Marktkapitalisierung eher am oberen Ende dieser Spanne, wie er Anfang Jahr kommunizierte. In Dollar gerechnet beträgt Holcims Gesamtkapitalisierung gegenwärtig rund 56 Mrd.
Sollte die Rest-Holcim tatsächlich mit weniger als 10 Mrd. $ bewertet werden, wäre dies für einen Konzern mit immer noch 17 Mrd. ¨$ Umsatz, einem angestrebten Wachstum von rund 4% im Jahr und einem überproportionalen Zuwachs von Betriebsgewinn und Cashflow sehr wenig. Dies obschon die Aktien allein seit der Ankündigung Ende Januar 30% an Wert gewonnen haben und nahe ihrem im Ende Juli erreichten Höchst von rund 85 Fr. notieren.
Mit der Abspaltung als solches aber auch mit einer jetzt kolportierten Doppelkotierung scheint es Holcim tatsächlich zu gelingen, ihren Wert deutlich zu machen. Sehr zur Freude der bisherigen Schweizer Aktionäre.
Diese Gewinnwarnung kommt nicht gänzlich überraschend, würde man meinen, und doch hat es die Wirkung in sich. Die Aktien von Tecan verlieren am Mittwoch rund 14% und fallen damit auf den niedrigsten Stand der vergangenen fünf Jahre.
Neu erwartet der Laborausrüster im laufenden Jahr einen Umsatzrückgang von 12 bis 14%, die bisherige Prognose ging von einem stagnierenden Umsatz bis zu einem Rückgang im mittleren einstelligen Prozentbereich aus. Auch die bereinigte Ebitda-Marge dürfte mit 16 bis 18% niedriger ausfallen als bisher angekündigt (18 bis 20%) – und damit der Gewinneinbruch nicht noch deutlicher ausfällt, hat Tecan ein «striktes Kostenprogramm» angekündigt.
Tecan ist seit längerem mit zwei Herausforderungen konfrontiert: Die Nachfrage aus China verzögert sich, die dortigen Kunden warten auch nach den jüngsten Ankündigungen Pekings auf die Implementierung eines Stimulusprogramms der Regierung, und die grossen Pharma- und Biotechkonzerne sind weiterhin sehr zögerlich mit Investitionen in automatisierte Laboranlagen. Besonders stark leidet das Partnergeschäft, in dem Tecan Anlagen für OEM baut. Viele Aufträge hätten sich nun ins nächste Jahr verschoben.
Die Mitteilung liest sich wie ein Eingeständnis – nicht nur was die operativen Aussichten, sondern auch was die bisher sehr schwache Kommunikation angeht. Bereits Mitte August wurden die Erwartungen mit den Halbjahreszahlen klar verfehlt, die Prognose für 2024 musste revidiert werden, und ich fragte mich damals, ob das Unternehmen nicht eine Gewinnwarnung hätte publizieren müssen.
Dieses Mal kommt sie. Und der Punkt des maximalen Pessimismus war denn auch offensichtlich noch nicht erreicht, wie ich das vergangene Woche dachte. Obwohl nicht ausdrücklich geschrieben, war ich davon ausgegangen, dass der Markt nicht mehr an die Ziele für 2024 glaubt und das entsprechend bereits einpreist. Nach dem Umsatzeinbruch von fast 14% sowie einem Rückgang der bereinigten Ebitda-Marge von 18,7 auf 14,5% im ersten Halbjahr wäre alles andere auch überraschend gewesen.
Die heute publizierte Gewinnwarnung unterbietet aber die negativen Erwartungen offensichtlich noch. Vor allem aber weckt sie erneut Misstrauen: Was wenn die Erholung auch 2025 nicht kommt?
Tecan selbst betrachtete die Marktschwäche als vorübergehend und sieht sich gut positioniert, um zu Wachstumsraten von 5 bis 9% zurückzukehren. Daher bestätigt das Unternehmen seinen mittelfristigen Ausblick. Die Analysten werden nach der neuerlichen Enttäuschung aber vorsichtiger. So wird Ausano Cajrati Crivelli von der Zürcher Kantonalbank in seiner Einschätzung deutlich: «Der mittelfristige Outlook wurde zwar bestätigt, wird heute aber nicht relevant sein für unser Rating.»
Für mich bleibt der Investment Case mittelfristig weiter intakt. Ich gehe davon aus, dass es sich um eine temporäre Delle handelt, der strukturelle Wachstumstrend im Gesundheitswesen ist intakt, nicht zuletzt dürfte Tecan von der zunehmenden Automatisierung profitieren. Aus dieser Perspektive sind die Aktien auf dem gegenwärtigen Niveau sehr attraktiv. Die Zweifel sind nach der jüngsten Kommunikation aber bei mir und generell im Publikum nicht kleiner geworden und das Unternehmen hat einen strengen Investorentag am kommenden Dienstag vor sich, wenn es diese ausräumen will.
Freundlich grüsst im Namen von Mrs Market
Gabriella Hunter