Samstag, September 28

Ausgerechnet für seine politisch gefährlichste Aktion wurde Julian Assange nie angeklagt.

Der Wikileaks-Gründer Julian Assange am 25. Juni beim Anflug auf den Flughafen von Bangkok. Das Bild wurde von Wikileaks publiziert.

Mit dem juristischen Vergleich zwischen Julian Assange und den USA kommt der ungleiche Kampf dieser beiden Kontrahenten zu einem plötzlichen Ende. 17 Jahre lang war Assange ein Stachel in der Seite der Weltmacht Amerika. Vier unterschiedliche Regierungen – zwei republikanische, zwei demokratische – haben sich mit dem Problem Assange abgemüht. Nun hat der Australier im Tausch gegen ein begrenztes Schuldeingeständnis eine Strafmilderung ausgehandelt und kann am Mittwoch als freier Mann in seine Heimat Australien zurückkehren.

Bei dem ursprünglich geplanten Prozess in den USA hätte Assange eine Haftstrafe von bis zu 175 Jahren gedroht, wobei ein derart drakonischer Richterspruch stets als unwahrscheinlich galt. Die Anklage gegen den Wikileaks-Gründer berührte ein Spannungsfeld extrem widersprüchlicher Meinungen. Für die einen ist Assange ein unerschrockener Kämpfer für Transparenz, der es gewagt hat, dunkle Geheimnisse des amerikanischen «Imperiums» zu enthüllen. Für die anderen hat er wissentlich Gesetze gebrochen, um den USA zu schaden.

Ein Problem für die Pressefreiheit?

Wieder andere Stimmen, darunter einflussreiche Medienhäuser, verrieten in den letzten Jahren zwar wenig Sympathie für den Angeklagten, warnten aber eindringlich davor, mit einer Verurteilung aufgrund der umstrittenen Espionage Act einen gefährlichen Präzedenzfall zu schaffen. Sie fürchteten einen bleibenden Schaden für die Pressefreiheit.

Die juristische Grundfrage lautete daher: Hatte sich Assange mit der massenhaften Veröffentlichung von unrechtmässig erworbenen Regierungsdokumenten strafbar gemacht oder sich im Rahmen einer legitimen journalistischen Tätigkeit bewegt? Die Regierung von Barack Obama (2009–17) hatte dieses Minenfeld noch gescheut und sich gegen eine Anklage entschieden. Justizbeamte sprachen damals vom «New York Times»-Problem: Wenn man Assange den Prozess mache, so argumentierten sie, müsse man konsequenterweise auch angesehene Zeitungen vor Gericht bringen, die vertrauliche Dokumente veröffentlichten.

Klar ist jedoch zweierlei: Erstens zeigte Assanges Enthüllungsplattform Wikileaks von Anfang an wenig Ähnlichkeit mit einem klassischen Medienunternehmen. Ihr Augenmerk lag auf dem Veröffentlichen von vertraulichen und geheimen Dokumenten, nicht auf dem Erklären und Einordnen der darin enthaltenen Informationen. Eine ihrer frühesten grossen Publikationen, im September 2007, betraf eine Liste von Militärmaterial, das die USA in Afghanistan einsetzten. Die Mühe, den Datenberg aus für Laien unverständlichen Typenbezeichnungen und Abkürzungen militärischer Einheiten aufzuarbeiten, machte sich Wikileaks nicht.

Zweitens begab sich die Organisation mit ihrem Verhalten sofort auf Kollisionskurs mit dem amerikanischen Staat. Nach ihrer Gründung behauptete sie zwar auf ihrer Website, ihre Hauptinteressen beträfen «unterdrückerische Regime» in Asien, im ehemaligen Ostblock, in Afrika und im Nahen Osten. Aber in Wirklichkeit befasste sie sich mit keiner Regierung so intensiv wie mit der amerikanischen. In einer 2009 erstellten Liste der «meistgewünschten Leaks» nannte Wikileaks mehr als 40 geheime Dokumente und Dokumentensammlungen aus den USA als Prioritäten, hingegen nur 2 aus China.

Eines der grössten Datenlecks der Geschichte

Auf jene Zeit gehen auch die Lecks zurück, die später im Zentrum der Anklage gegen Assange standen. Während die Regierung des bis 2009 amtierenden Republikaners George W. Bush den Aktivitäten der Enthüllungsplattform noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte, sah sich der demokratische Präsident Obama mit einem akuten Problem konfrontiert. Am 5. April 2010 veröffentlichte Wikileaks Videoaufnahmen von Angriffen eines amerikanischen Kampfhelikopters auf Zivilisten in Bagdad und löste damit Entsetzen über das brutale Vorgehen im Irak-Krieg aus. Angesichts klarer Hinweise auf ein Kriegsverbrechen entfachte das Video eine Debatte über die Verhältnismässigkeit beim Einsatz tödlicher Gewalt zur Aufstandsbekämpfung.

Wie Wikileaks an die Aufnahmen gelangt war, stellte sich erst einige Wochen später heraus: Assanges Informant war Bradley Manning, ein im Irak stationierter Nachrichtendienstsoldat (seit einer Geschlechtsumwandlung bekannt als Chelsea Manning). Laut den amerikanischen Ermittlungsbehörden hatte Manning vom November 2009 an den Zugang zu militärischen Datenbanken genutzt, um klassifizierte Dokumente für Wikileaks herunterzuladen.

Assange und Manning waren über Monate via einen verschlüsselten Kanal miteinander in Kontakt. Dabei stiftete der Australier zu weiteren Leaks an und gab Ratschläge, wie Manning Spuren verwischen könnte. Laut der Anklage versuchte Assange mit Mannings Hilfe auch, durch das Knacken eines Passworts selber in die militärische Datenbank einzudringen, so dass es später aussehen würde, als ob Hacker für den Datenraub verantwortlich gewesen seien, nicht ein Insider. Aus Sicht der Anklage hatte damit Assange nicht wie ein Investigativjournalist bloss Dokumente entgegengenommen, sondern eindeutig strafbare Handlungen begangen.

Ungefiltert ins Netz

Ein weiterer Vorwurf bezog sich auf die Form der Publikation: Wikileaks veröffentlichte 2010/11 dank Mannings Hilfe insgesamt eine halbe Million militärische Lageberichte der amerikanischen Truppen im Irak und in Afghanistan, 250 000 diplomatische Depeschen und 800 Dossiers über die Gefangenen im Lager Guantánamo. Diese Dokumente gelangten ungefiltert ins Netz, ohne Berücksichtigung von Schutzinteressen.

Laut der amerikanischen Regierung brachte Wikileaks damit zahlreiche Informanten in Gefahr. Unter ihnen waren lokale Helfer der amerikanischen Streitkräfte in Afghanistan und im Irak, die von dortigen Kriegsparteien als Kollaborateure verfolgt werden konnten. Assange nahm solche blutige Racheakte bewusst in Kauf. «Nun ja, das sind Informanten», sagte er damals gegenüber Journalisten. «Wenn sie getötet werden, haben sie es verdient.»

Fraglich war bei vielen Wikileaks-Publikationen auch, welchem öffentlichen Interesse sie dienen sollten. Die Enthüllung von Missständen wie bei dem Helikopter-Video blieb die grosse Ausnahme. Assange stellte sich auf den radikalen Standpunkt, dass jegliches Geheimnis der Weltmacht Amerika ans Licht der Öffentlichkeit gehört. Aber dass beispielsweise amerikanische Botschaften bei der Verfassung ihrer Lagebeurteilungen auf Vertraulichkeit angewiesen sind, liegt auf der Hand. Die «geleakten» Depeschen brachten die USA wegen ihrer ungeschminkten Sprache gegenüber manchen Gastgeberstaaten in Verlegenheit, aber letztlich zeigten sie einfach, dass die Diplomaten die Lage in ihren Ländern gut zu analysieren verstanden.

Unter dem reisserischen Titel «The Global Intelligence Files» publizierte Wikileaks auch gehackte Interna eines amerikanischen Think-Tanks. Von öffentlicher Bedeutung war darunter jedoch kaum etwas. Teil der Dokumentensammlung waren Presseartikel, darunter der NZZ, die man ebenso gut im Internet hätte finden können, und belanglose Alltagskorrespondenz der Buchhaltung.

Gemeinsame Sache mit dem Kreml

Eine spektakuläre Rückkehr ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit gelang Wikileaks jedoch im Sommer 2016: Die von Assange aus seinem Versteck in der Botschaft Ecuadors in London geleitete Organisation stellte ein Vierteljahr vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen etwa 20 000 E-Mails der Demokratischen Partei ins Internet. Es war die brisanteste Aktion in der Geschichte der Enthüllungsplattform, weil sie direkt in den amerikanischen Wahlkampf eingriff. Zugleich machte sie sich offen zum Instrument des Kremls, dessen Geheimdienst in die Computersysteme der Demokraten eingedrungen war und eine Einflusskampagne zugunsten des Republikaners Donald Trump führte.

Assanges Coup hatte eine eigentümliche Verschiebung der Sympathien zur Folge: Genoss der Australier bis dahin vor allem zur Linken Verehrung, so kam nun überschäumendes Lob von Trump und seinen Anhängern. Dem Wikileaks-Chef sollte dies allerdings nichts nützen. Nach Trumps Wahl zum Präsidenten setzte sich unter traditionellen Konservativen wie dem CIA-Direktor Mike Pompeo und Justizminister Jeff Sessions eine härtere Linie gegenüber Assange durch. Pompeo stellte Wikileaks einem feindlichen Geheimdienst gleich, und Sessions sorgte dafür, dass im März 2018 eine erste, damals noch geheime Anklage gegen Assange erging. Im folgenden Jahr stellten die USA gegenüber London jenes Auslieferungsgesuch, das den bis jetzt andauernden Rechtsstreit in Grossbritannien auslöste.

In ihrer 2020 überarbeiteten Form umfasste die Anklage 18 Anklagepunkte, die mit einer Ausnahme alle auf dem mehr als hundert Jahre alten und von Bürgerrechtlern kritisierten Spionagegesetz beruhten. Mit Bedacht vermieden die Justizbehörden jedoch in den Anklagepunkten Formulierungen, die später als Präzedenzfall für die Bestrafung der blossen Publikation geheimer Dokumente dienen könnten. Assange erklärt sich nun im Rahmen der Strafvereinbarung in lediglich dem ersten dieser Anklagepunkte für schuldig.

Nie Teil der Anklage war Assanges Kooperation mit den Russen im Wahlkampf 2016. Mit dem Abschluss des Strafverfahrens gegen den Wikileaks-Chef ist daher klar, dass dieser zentrale und für die amerikanische Innenpolitik besonders belastende Aspekt im Dunkeln bleiben wird.

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