Montag, September 30

Im Schatten des europäischen Pharmachampions Novo Nordisk mit seinen Abnehmmitteln wird AstraZeneca derzeit unterschätzt. Zu Unrecht: Das britisch-schwedische Unternehmen wächst zweistellig und hat grosse Ziele.

AstraZeneca-Chef Pascal Soriot verfolgt einen ehrgeizigen Plan. Wie er beim Kapitalmarkttag im Mai ankündigte, hat er seinem Pharmakonzern die Messlatte gesetzt, «bis zum Jahr 2030 einen Gesamtumsatz von 80 Mrd. $ zu erzielen». Das ist nicht nur ambitioniert. Es wäre nahezu eine Verdopplung der 45,8 Mrd. $ von 2023. «Dies ist ein klarer Ausdruck des erheblichen Wachstumspotenzials, das wir sowohl bei unseren zugelassenen Medikamenten als auch bei denen in unserer späten Entwicklungspipeline sehen», erneuerte Soriot vergangene Woche bei der Vorlage des Berichts zum zweiten Quartal sein Wachstumsversprechen.

Allein: Vielen Analysten und Investoren fehlt die Fantasie, wie Soriot sein ehrgeiziges Ziel erreichen könnte. Für 2030 trauen die bei Bloomberg versammelten Analysten dem Konzern gerade einmal 70 Mrd. $ Umsatz zu. Die Analysten von Berenberg, die eine Kaufempfehlung für AstraZeneca ausgesprochen haben, kommen beim besten Willen und vielen Prognoseerhöhungen für die einzelnen Konzernsparten immerhin auf 74 Mrd. $ bis 2030. Aber nicht auf 80 Mrd. $.

Die Konzernleitung ficht das nicht an. Bis Anfang des nächsten Jahrzehnts will das britisch-schwedische Pharmakonglomerat nicht weniger als zwanzig neue Medikamente auf den Markt bringen – «viele», so Soriot, hätten Blockbuster-Potenzial mit einem Jahresumsatz von mehr als 5 Mrd. $. Insgesamt kalkuliert der französisch-australische CEO allein daraus ein Umsatzpotenzial von 20 Mrd. $. «Bereits in diesem Jahr haben wir fünf positive, potenziell die Praxis verändernde Phase-III-Studien angekündigt, die wesentlich zu unserem Wachstum beitragen sollen», sagte Soriot, der seit 2012 die Geschicke von AstraZeneca verantwortet und sich zuvor als COO bei Roche Pharmaceuticals einen Namen als Manager gemacht hat.

Schon wieder grosse Hoffnungen

Die Hoffnung bei AstraZeneca war vor wenigen Jahren auch schon gross. Damals wollte Soriot mit einem Impfstoff des Unternehmens dafür sorgen, dass die von der Pandemie gelähmte Gesellschaft auf die Beine kommen. Und dies gelang auch: In Zusammenarbeit mit der Universität Oxford entwickelte AstraZeneca den Impfstoff AZD1222, der später unter dem Namen Vaxzevria bekannt wurde und im Dezember 2020 seine erste Notfallzulassung in Grossbritannien erhielt.

Zwar hatte AstraZenecas Impfstoff eine geringere Wirksamkeit als etwa das mRNA-Produkt von BioNTech/Pfizer, doch der Selbstkostenpreis und die schnelle Verfügbarkeit halfen insbesondere auch ärmeren Ländern, Zugang zu Impfstoffen zu bekommen. Entsprechend stieg während der Pandemie das Interesse am Pharmakonzern, der 1999 aus der Fusion der schwedischen Astra und der britischen Zeneca hervorgegangen war. Das spiegelte sich an der Börse: Zwischen Sommer 2019 und Mitte 2023 kletterten die Valoren um 75%. Danach gaben Sie bis Ende Februar dieses Jahres einen Drittel des Kursgewinns ab.

Im Frühjahr 2024 setzten sie zu einem erneuten Höhenflug an. Das Ergebnis: Der Kurs stieg auf Sicht von fünf Jahren um 90%.

Damit haben sich die Anteile deutlich besser entwickelt als die Aktien anderer europäischer Pharmakonzerne wie des britischen Rivalen GSK, des wertvollsten französischen Gesundheitskonzerns Sanofi oder der beiden Schweizer Pharmariesen Roche und Novartis. Lediglich der inzwischen wertvollste europäische Konzern Novo Nordisk befindet sich dank des Hypes um die Abnehmspritze in einem anderen Orbit.

Der starke Kursanstieg ist die Folge einer bemerkenswert dynamischen Geschäftsentwicklung. So stieg der Umsatz von AstraZeneca im abgelaufenen Quartal mit 13% auf 12,9 Mrd. $, stärker als erwartet. Tatsächlich entwickelt sich das Geschäft von AstraZeneca so gut, dass das 25-jährige Pharma-Powerhouse die Prognose für das Gesamtjahr anhob. CEO Pascal Soriot rechnet neu mit einem Umsatzplus im mittleren Zehnerprozentbereich statt wie zuvor prognostiziert im unteren Zehnerprozentbereich. Auch für den Gewinn pro Aktie stellt Soriot eine Steigerung um einige Prozentpunkte in Aussicht.

Grösster Umsatztreiber sind Onkologie- und Diabetesmittel

Hinter dieser Entwicklung steht weiterhin in erster Linie die Onkologiesparte, die im zweiten Quartal wegen der starken Nachfrage nach den Krebsmedikamenten Imfinzi, Tagrisso und Enhertu um 15% auf 5,3 Mrd. $ zulegte. Zu den weiteren Umsatztreibern zählen das Medikament Ultomiris (+35%), das zur Behandlung bestimmter seltener Blutkrankheiten eingesetzt wird und vor allem das Diabetesmedikament Farxiga, dessen Erlös in den ersten sechs Monaten 2024 gar 38% auf 3,8 Mrd. $ angewachsen ist – und damit Tagrisso erstmals als absatzstärkstes Medikament abgelöst hat.

Farxiga wird zur Verbesserung der Blutzuckerkontrolle bei Erwachsenen mit Diabetes Typ 2 verwendet. Es hilft, den Blutzuckerspiegel zu senken, indem es die Rückresorption von Glukose in den Nieren hemmt. In den USA wurde das Medikament im Juni auch für die Behandlung von Diabetes Typ 2 bei Kindern ab zehn Jahren zugelassen. Ausserdem hat der Konzern eigene Abnehmmittelkandidaten in Phase I und II der klinischen Tests. Den lukrativen GLP-1-Markt möchte AstraZeneca in Zukunft zudem durch eine Lizenzvereinbarung mit dem chinesischen Biotech-Unternehmen Eccogene erschliessen. Damit ist AstraZeneca ein Profiteur des Megatrends Diabetesbehandlung.

Gerade das Diabetesmedikament Farxiga zeigt eine der Tücken in der Pharmabranche, es verliert ab 2026 den Patentschutz. AstraZeneca will das Mittel weiterentwickeln, um es in Kombination mit anderen Medikamenten einsetzen zu können – zum Beispiel zur Aufrechterhaltung der Nierenfunktion bei Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen –, womit ein Umsatzeinbruch vermieden werden soll. Ein zweiter wichtiger Faktor ist die erschwerte Prognose: Das schnelle Wachstum im zweiten Quartal überdeckte, dass die Krebsmedikamente Enhertu und Imfinzi die Erwartungen verfehlten. Ausserdem glauben etwa die Analysten von UBS, dass die Kosten für Vertriebs- und Marketingvereinbarungen sowie Meilensteinzahlungen unterschätzt würden.

Die in Aussicht gestellten zusätzlichen 20 Mrd. $ Umsatz aus der heutigen Pipeline sind nicht risikoadjustiert. Erst die kommenden Monate (und Jahre) werden zeigen, welche Investitionen sich auszahlen. Erfolg ist im kapitalintensiven Pharmageschäft nie garantiert, der Versuch kostet aber immer: Im vergangenen Jahr hat AstraZeneca knapp 11 Mrd. $ und fast ein Viertel des Umsatzes in die Forschung und Entwicklung investiert.

Die Aktien sind attraktiv bewertet

Angesichts des Wachstumspotenzials erscheint der derzeit siebtwertvollste Pharmakonzern der Welt auf Basis zahlreicher Kennzahlen attraktiv bewertet. Die Aktien von AstraZeneca werden derzeit mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von rund 18 gehandelt, was unter dem Fünfjahresdurchschnitt von 19,5 liegt.

Im Vergleich zu Konkurrenten wie Novo Nordisk und Eli Lilly sind die Werte deutlich günstiger, im Vergleich zu den europäischen Wettbewerbern jedoch leicht höher bewertet. Das erwartete Gewinn- und Umsatzwachstum liegt deutlich über dem Branchendurchschnitt. So rechnen die von Bloomberg befragten Analysten für dieses Jahr mit einem Umsatz- und Gewinnwachstum von 13%. Für die nächsten zwölf Monate liegt das erwartete Gewinnwachstum bei 11,8%, während die europäischen Wettbewerber bei einstelligen Wachstumsraten verharren.

Anleger sind offenbar bereit, AstraZeneca einen Bonus für das höhere Wachstumspotenzial zuzugestehen. Das legt die Dividende nahe, die deutlich niedriger ist als bei den grossen Konkurrenten.

Einen Erfolg kann Soriot bereits heute verbuchen, ohne auf den positiven Ausgang der laufenden Zulassungsverfahren zu hoffen: AstraZeneca arbeitet zunehmend profitabler und erreichte im ersten Halbjahr eine Ebitda-Marge von 33%. Damit hat das Unternehmen zu den europäischen Rivalen aufgeschlossen. Die Kosten würden laut UBS aber auch in den kommenden Quartalen im Fokus stehen.

Nicht wenige Analysten sehen das Chance-Risiko-Verhältnis der Forschungspipeline von Soriot durchaus positiv. So lobt beispielsweise Goldman Sachs die «klassenbeste Pipeline». «Wir glauben, dass das Unternehmen eine attraktive Kombination aus einem starken zugrunde liegenden Geschäftsmodell mit Raum für Margenausweitung bietet, gepaart mit einer konkurrenzlosen Pipeline-Optionalität», zeigt sich Analyst Rajan Sharma in seiner Studie geradezu euphorisch. Die US-Investmentbank spricht gar von einem «Onkologie-Powerhouse» und spricht eine Kaufempfehlung mit einem Kursziel aus, das mehr als 20% über dem aktuellen Niveau liegt.

Langfristiges Basisinvestment in Europas Pharmasektor

Fazit: Die AstraZeneca-Aktie bietet eines der attraktivsten Chance-Risiko-Verhältnisse im Healthcare-Segment. Die Aktien sind mit einem KGV von 18 zudem nicht teuer. Dass sich die Dividendenrendite von rund 2% für das laufende Jahr am unteren Ende des Branchenvergleichs bewegt, spielt angesichts der ausgezeichneten Wachstumsaussichten bis Ende der Dekade und darüber hinaus nur eine untergeordnete Rolle.

Auf dem gegenwärtigen Kursniveau befinden sich die AstraZeneca-Aktien in Schlagdistanz zum gerade erst im Juni aufgestellten Höchst bei 126 £. Seit Jahresbeginn haben die Titel bereits 18% zugelegt. Dementsprechend scheint das Kurspotenzial zumindest kurzfristig eher begrenzt. Langfristig könnten sich die Papiere des britisch-schwedischen Pharmaschwergewichts jedoch synchron zum erwarteten Umsatzwachstum entwickeln.

Behält Konzernchef Soriot mit seinem ambitionierten Umsatzziel von 80 Mrd. $ bis 2030 recht, dürfte sich den Anlegern bei unveränderter, keineswegs ambitionierter Bewertung in den nächsten fünf Jahren ein Kurspotenzial von mindestens 50% bieten. Das mag angesichts des exorbitanten Kursgewinns von Eli Lilly und Novo Nordisk in der jüngeren Vergangenheit nicht ganz so atemberaubend sein, dafür erscheint das Rückschlagpotenzial ungleich geringer. AstraZeneca ist daher für konservative Anleger ein absolutes Basisinvestment im europäischen Pharmasektor.

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