Der niederländische Admiral Rob Bauer besucht die Schweiz. Er fordert einen Mentalitätswechsel bei den Regierungen und der Rüstungsindustrie.
Herr Admiral Bauer, trotz zwei Kriegen gleichzeitig wirkt die Bedrohung aus Schweizer Sicht weit weg . . .
. . . man muss klar sagen: Die Schweiz spielt eine wichtige Rolle als Kooperationspartner der Nato. Seit 1996 macht sie bei Partnership for Peace mit, seit 27 Jahren sind wir also Partner. Gerade haben wir unser massgeschneidertes Programm zur Zusammenarbeit erneuert. Wir wollen die Interoperabilität zwischen den Nato-Streitkräften und der Schweizer Armee verbessern.
Also die Fähigkeit, gemeinsam einen Auftrag zu erfüllen.
Wir wollen auch weiter zusammen trainieren, etwa im Rahmen der Übung «Cyber Coalition», an der die Schweizer Armee beteiligt ist. Dazu kommen die 164 Schweizer Soldaten in Kosovo zugunsten der Nato-Friedenstruppe Kfor (Kosovo Force), die bald verstärkt werden. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Sicherheit und Stabilität auf dem Westbalkan.
Einen Grossteil dieses Engagements leistete die Schweiz schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine.
Entscheidend ist, dass wir für eine gemeinsame Sache kämpfen. Wenn die Russen gewinnen, verliert nicht nur die Ukraine als Land, sondern es wäre auch ein Zeichen, dass ein Autokrat mit einem solchen Bruch der internationalen Ordnung einfach so davonkommt.
Es geht also um gemeinsame Werte?
Wir dürfen es den Autokraten nicht erlauben, den Krieg zu gewinnen. Auch die schweizerische Neutralität ist auf die internationale, regelbasierte Ordnung angewiesen. Alle Staaten müssen ein neutrales Land auch als solches anerkennen und dessen Neutralität auch respektieren. Auch dafür braucht es eine regelbasierte Sicherheitsordnung.
In der Schweiz ist die Meinung weit verbreitet, dass eigentlich die Nato für unsere Sicherheit sorgt.
Der neutrale Status befreit ein Land nicht davon, sich selbst verteidigen zu können. Deshalb ist auch die Modernisierung der Schweizer Armee so wichtig: Die Beschaffung des F-35 oder die Erneuerung der Artillerie und der Leopard 2 leisten letztlich einen Beitrag dazu, die geltende Sicherheitsordnung zu schützen. Weil diese unter enormem Druck steht, gaben Finnland und Schweden unter anderem ihre Neutralität und ihre Blockfreiheit auf: Sie wollten in die Nato, weil sie nicht mehr daran glaubten, dass Russland weiterhin die Regeln respektiert.
Also ist die kollektive Sicherheit heute mit der kooperativen Sicherheitsordnung verbunden?
Ein Staat muss nicht unbedingt ein Verbündeter sein, man kann auch ein Partner der Nato sein.
Die Ukraine war auch ein Partner der Nato.
Es gibt die Diskussion darüber, ob die Abschreckung versagt habe, weil Russland die Ukraine doch angegriffen habe. Es ist nicht die Rolle der Nato, einen Angreifer zu stoppen, der ein Land ausserhalb der Allianz überfällt. Wer Mitglied ist, ist auch Teil des gegenseitigen Versprechens von der kollektiven Verteidigung. Finnland und Schweden haben entscheiden, dass sie dabei sein wollen; Finnland hat ja auch eine Grenze von 1340 Kilometern mit Russland.
Aber ohne die amerikanischen Streitkräfte funktioniert die kollektive Verteidigung nicht. Bewegt sich etwas in Europa, mehr selbst für die Sicherheit zu tun?
Wir haben beschlossen, dass in Zukunft kein Mitglied mehr als 50 Prozent der finanziellen Last tragen sollte. Das war bereits 1949 nach der Gründung der Nato die Idee: Die USA bezahlen die Hälfte, und die übrigen Länder den Rest. Jetzt übernimmt Washington fast 70 Prozent der offenen Rechnungen. Die Präsidenten Obama und Trump hatten also Recht – andere Bündnispartner müssen mehr tun. Deshalb haben sich die Bündnispartner auf dem Gipfel von Vilnius darauf geeinigt, die 2 Prozent des BIP als Untergrenze und nicht als Obergrenze für die Zusage von Verteidigungsausgaben festzulegen.
Dieses Ziel erreichen höchstens Polen, das Baltikum oder Griechenland . . .
2023 war das neunte Jahr in Folge, in dem die Verteidigungsausgaben der europäischen Bündnispartner und Kanadas gestiegen sind. Also ist unterdessen das Bewusstsein immerhin praktisch überall vorhanden. Es geht zudem darum, dass Europa auch alle militärischen Fähigkeiten aufbaut, über die bis anhin nur die USA verfügen. Ich rede nicht über Flugzeugträger oder Atombomben, aber es fehlt uns gegenwärtig einiges. Europa und auch Kanada haben aber nun den Schalter umgelegt . . .
Nur klagen die Europäer über knappe Finanzen.
Geld ist nicht das Problem, ich meine: Die Diskussion über die 2 Prozent BIP ist durch. Natürlich müssen die Länder auch halten, was sie versprochen haben.
Deutschland versinkt zurzeit im finanziellen Chaos und hat noch nicht einmal das versprochene Sondervermögen zum Wiederaufbau der Bundeswehr voll eingesetzt.
Auch da ist das Geld nicht das Problem, sondern die deutschen Haushaltsregeln. Ich glaube, die Deutschen werden eine Lösung finden. Es wäre ja auch seltsam, das Geld nicht in die Verteidigung zu investieren, obschon es vorhanden ist. Abgesehen davon sind die 2 Prozent erst die Grundlage. Das nächste Problem sind die Produktionskapazitäten der Rüstungsindustrie.
Inwiefern?
Wir können zwar mehr und mehr bestellen, was wir auch tun, aber das Einzige, was wir sehen, sind lange Lieferfristen und Preise, die ansteigen. Das ist ein ernsthaftes Problem: Die zusätzlichen Gelder für die Verteidigung führen deshalb nicht unmittelbar zu mehr Sicherheit. Wir haben es hier nicht mit einem offenen Markt zu tun, deshalb kann auch nicht der Markt die Probleme lösen.
Aus liberaler Sicht ist das schwer nachvollziehbar.
Seit 2014 steigen die Verteidigungsbudgets. Die Industrie hätte früher reagieren müssen. Auf der andern Seite setzten die Regierungen weiterhin auf Effizienz statt auf Effektivität.
Also möglichst schlank, aber nicht auf die Wirkung und die Handlungsfreiheit fokussiert.
Im Krieg geht es nicht um Effizienz, sondern um Effektivität. In der Ukraine fragt keiner, wie viel eine Patriot-Rakete kostet. Das ist den Ukrainern so etwas von egal. Sie brauchen einfach die Wirkung. Hier brauchen wir einen Mentalitätswechsel: bei den Regierungen, aber auch bei der Industrie.
Vielleicht auch bei der Bevölkerung.
Ich glaube, die Bevölkerung muss verstehen, dass die Konflikte nicht mehr weit weg von ihr sind. Wie nah soll der Krieg noch kommen? Syrien, Westbalkan, Ukraine? Wann ist der Krieg nahe genug?
Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Lage?
Der Krieg in der Ukraine verursacht die grösste Instabilität – nach wie vor. Aber auch der Westbalkan.
Die Gegenoffensive der Ukraine gegen die russischen Besatzer steckt fest. Die Lage sieht nicht gut aus.
Wir hofften alle, auch die Ukrainer, auf einen raschen Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive. Aber ich weiss nicht, ob allen wirklich bewusst ist, wie stark die russischen Befestigungsanlagen sind: Die ukrainische Armee muss sich durch ungeheuer dichte Minenfelder kämpfen: zehn Kilometer tief, mit fünf bis sechs Panzerminen pro Quadratmeter. Die Ukrainer brauchten also länger, bis sie die erste Sperre durchbrechen konnten.
Viel weiter sind sie aber nicht vorgerückt.
Es fehlt die Luftunterstützung, die Kampfjets, die wir einsetzen würden. Dazu sind die Truppen dem russischen Artilleriefeuer, den Drohnen und der elektronischen Kriegsführung ausgesetzt. Jetzt stehen sie zwischen Barriere eins und zwei.
Kann man sagen, die Gegenoffensive sei gescheitert?
Die Lage ist nicht hoffnungslos, im Gegenteil: Russland befindet sich im 650. Tag eines Krieges, den es in drei Tagen beenden wollte. Der Kreml ging davon aus, dass er die Ukraine in kürzester Zeit besiegen und eine Marionettenregierung einsetzen würde. Doch stattdessen kämpft die ukrainische Armee immer noch und hat bereits 50 Prozent des verlorenen Gebiets wieder in Besitz genommen.
Die Ukraine ist zurzeit weit davon entfernt, den Krieg zu gewinnen. Dafür braucht sie neben weitreichender Munition auch westliche Kampfjets. Die ukrainischen Piloten haben in Rumänien die ersten Flüge auf den F-16 absolviert. Wann sind die Jets bereit?
Es geht voran, aber es geht eben nicht nur um die Piloten. Ebenso entscheidend ist der Unterhalt dieser Jets. Bei diesen Jets warten wir nicht, bis einer von ihnen ausfällt, sondern wir führen regelmässig eine vorbeugende Wartung durch. Deshalb müssen wir eine ganze Logistikkette aufbauen, auch in Zusammenarbeit mit den Herstellern. Wir dürfen die Jets also nicht zu rasch weggeben, auch wenn die Ukrainer das gerne möchten. Wir müssen den Erfolg organisieren.
Dazu gehört auch die Integration in die Führungssysteme der Ukraine . . .
. . . und die Bewaffnung. Aber die Kampfjet-Koalition ist mit Hochdruck dran. Rumänien mit dem Training, Luxemburg hilft mit Geld, andere Länder sind dabei, Anlagen für den Unterhalt aufzubauen.
In Europa geht die Angst vor einer Eskalation herum.
Wenn die Nato wirklich eine Bedrohung wäre für Russland, wie der Kreml behauptet, dann wäre die Reaktion auf den finnischen Nato-Beitritt ganz anders gewesen. Aber die Russen haben militärisch überhaupt nichts gemacht.
Russland hält also Distanz?
Der Kreml sucht keinen Konflikt mit der Nato. Aber es gibt schon eine Entwicklung, die uns Sorgen bereitet: In den letzten Monaten begann Russland, ukrainische Infrastruktur in unmittelbarer Nähe der Nato-Grenze anzugreifen. Es besteht ein echtes Risiko eines Übergreifens, wie wir in Rumänien und Polen gesehen haben.
Zeigt das nicht, wie tief die Schwelle zu einem Konflikt mit der Nato doch ist?
Der Einschlag einer ukrainischen Boden-Luft-Abwehrrakete in Polen im November 2022 zeigte, wie wichtig unsere Mechanismen sind. Es war zunächst nicht klar, ob es sich um eine russische Rakete oder einen Abpraller der Verteidiger handelte. Doch die polnische Regierung reagierte besonnen, untersuchte die Fakten und gab Entwarnung. Genau darum geht es der Nato: Konflikte zu verhindern und einen kühlen Kopf zu bewahren, wenn die Spannungen hoch sind.
Admiral Rob Bauer
Der niederländische Marineoffizier wurde 1962 geboren und war zunächst Kommandant von Kriegsschiffen. Von 2017 bis 2021 war er Chef der niederländischen Streitkräfte. Seit 2021 ist Bauer Vorsitzender des Nato-Militärausschusses. Dieses Gremium ist die höchste militärische Instanz des Bündnisses und entwickelt die strategischen Leitlinien. Bauer besuchte Anfang Dezember 2023 die Schweiz und traf unter anderem den Chef der Armee, Korpskommandant Thomas Süssli, zu Gesprächen.