Mittwoch, März 12

Die 56 000 Seelen zählende Bevölkerung von Grönland hat ein Selbstmordproblem. Die Suizidrate war 2019 achtmal so hoch wie jene in Dänemark. Um die Regierung wachzurütteln, verfasste Niviaq Korneliussen auf Dänisch den Roman «Das Tal der Blumen».

«Das Tal der Blumen» heisst der jüngste Roman der grönländischen Schriftstellerin Niviaq Korneliussen. Betitelt ist er nach einem verfallenen Friedhof in Ostgrönland, dessen Gräber mit Plastikblumen übersät sind. Die namenlose Ich-Erzählerin, die sich auf der letzten Seite des Romans umbringen wird, will sich dort bestatten lassen.

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Die frustrierte Erzählerin lässt die letzten Monate ihres Lebens Revue passieren. Sie reist zum Studium nach Dänemark, so wie die Autorin auch, die dann aber die Ausbildung abbrach und das Schreiben zum Beruf machte – in einer Sprache, die von weniger als 60 000 Menschen gesprochen wird. Schon ihr Romandebüt, «Homo sapienne», über eine Gruppe queerer Jugendlicher in der Hauptstadt Nuuk liess aufhorchen.

«Gegen eine Wand»

Für ihren zweiten Roman, «Das Tal der Blumen», erhielt Korneliussen 2021 den Preis des Nordischen Rates. In ihrer Dankesrede im Kopenhagener Schauspielhaus vor der versammelten Politprominenz holte sie zu einem Angriff auf die grönländische Regierung aus: «Ich versuchte, eine Rede an die Führer meines Landes zu schreiben. Aber das ist so, als würde ich gegen eine Wand reden.»

Korneliussen wirft ihnen vor, nicht genug gegen Grönlands Selbstmordproblem zu unternehmen. Um den Druck zu erhöhen, verfasste sie den Roman auf Grönländisch und Dänisch. 2019 zählte man bei einer Bevölkerung von 56 000 Leuten 45 Suizide, die Suizidrate war auf das Achtfache der dänischen gestiegen. Während sich in Dänemark vor allem ältere Menschen das Leben nehmen, sind es in Grönland die Jungen.

Die Zahl 45 strukturiert den Roman. Eingestreut in die Fabel der Ich-Erzählerin sind 45 Mini-Suizid-Geschichten, 45 Grabsteine: «Mädchen, 15 Jahre. Erhängte sich mit einem Kabel vor einer Zimmerei.» Der Text besteht aus drei Teilen: «Sie», «Du», «Ich» – allmählich rückt der Tod näher, die Schlinge zieht sich um den Hals der Erzählerin zu. «Wir sind damit aufgewachsen», sagte Korneliussen der Kopenhagener Zeitung «Information». «So gut wie alle Grönländer kennen jemanden, der Suizid begangen hat, und jemanden, der nahe daran ist. Das ist Teil des Lebens.»

Noch 1970 war die Selbstmordrate auf Grönland niedrig. Ende der neunziger Jahre erreichte sie ihren Höhepunkt. Die fünfziger und sechziger Jahre brachten eine forcierte Modernisierung durch die Dänen. Industrielle Fischerei verdrängte den traditionellen Robbenfang. Die Entwurzelung führte zu Gewalt und Alkoholismus.

Nationales Trauma

Niviaq Korneliussen organisierte Kundgebungen für den Ausbau der Selbstmordprävention, erkannte aber bald, dass die Demonstrationen für die Betroffenen alles andere als hilfreich waren. Darum schrieb sie den Roman. Für sie ist Suizid ein unbearbeitetes nationales Trauma. Dem dänischen «Kristeligt Dagblad» gegenüber bemerkte sie, es sei ein grosses Problem, «dass man so fundamental abhängig ist von einem andern Land, das einen nicht versteht. Wir haben in Grönland dänische Strukturen übernommen. Und das funktioniert nicht. Zu verschieden sind die Kulturen, Sprachen und Menschenbilder, zu verschieden die Lebensweisen.»

Das Schicksal der Erzählerin setzt Korneliussen in eins mit dem Schicksal Grönlands. «Es ist der Lauf der Natur, ein Volk aussterben zu lassen, das auf dieser Erde nicht zurechtkommt.» Das allerdings ist Schwarzmalerei. Das alte Grönland ist Geschichte, es gilt, ein neues, eigenständiges Grönland zu schaffen. Die Chancen sind dank dem Rohstoffreichtum gut. Und was den Suizid betrifft: 2023 lancierte Grönlands Regierung eine Selbstmordverhütungsstrategie, die auf die Enttabuisierung des Problems setzt. Da sage noch einer, Literatur entfalte keine Wirkung.

Niviaq Korneliussen: Das Tal der Blumen. Roman. Aus dem Dänischen von Franziska Hüther. BTB-Verlag, München 2024. 281 S., Fr. 33.90.

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