Donnerstag, September 19

Donald Tusk markiert im grössten Hochwasser seit mehr als einem Jahrzehnt Führungsstärke und Hilfsbereitschaft. Gleichzeitig schaffen sein Aktivismus und einige widersprüchliche Äusserungen Unruhe.

Fünf Tage nach Beginn der schlimmsten Unwetter in Mitteleuropa seit mehr als einem Jahrzehnt bleibt die Lage in Polen extrem angespannt. Zahlreiche Ortschaften, vor allem nahe der Grenze zu Tschechien, sind überflutet. Die Bilder von dort zeigen Wassermassen, die Brücken, Autos und Holzhäuser mitreissen. Tausende haben alles verloren, mindestens sieben Tote sind zu beklagen.

Ministerpräsident Donald Tusk tut sein Möglichstes, um Präsenz zu markieren. Jeden Tag trifft sich in Breslau (Wroclaw) unter seiner Leitung der Krisenstab. Im schwarzen T-Shirt und in Jeans hört er Berichte und gibt Anweisungen. Tagsüber stapft er durch versehrte Ortschaften. Seine Regierung hat schnelle Hilfe für Betroffene angeordnet. Umgerechnet 440 Millionen Franken lässt sich Warschau das kosten – fürs Erste.

Politische Bewährungsprobe für Tusk

Polen ist sich Überschwemmungen zwar gewohnt. Bereits 1997 und 2010 richteten sie riesige Schäden an und prägten sich im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung ein. Die Naturkatastrophen sind auch ein Test der Kompetenz von Behörden und Politikern: Für Tusk gilt dies besonders. Er war schon vor vierzehn Jahren Regierungschef.

Dass er es dieses Mal besser machen will, machte der 67-Jährige schon vor Beginn der Überflutungen klar. Man dürfe die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, sagte Tusk am letzten Freitag. Damals habe man sich, beruhigt von guten Prognosen, ins Wochenende verabschiedet. «Am Montag stand bereits ein grosser Teil des Landes unter Wasser. Heute sind wir unvergleichlich besser vorbereitet.» Tusk verwies auf technische Verbesserungen sowie vorgewarnte Behörden und Helfer.

Eine Bedrohung für das ganze Land sah er am Vortag des Unwetters aber nicht. Die Prognosen seien «nicht übermässig alarmierend». Heute wünschte sich der Politiker wohl, er hätte seine Worte etwas zurückhaltender gewählt. Die Infrastruktur gegen das Hochwasser hat den Belastungstest nämlich nur teilweise bestanden. So hatte Tusk noch am Freitag gesagt, die Rückhaltebecken hätten genügend Kapazität und würden nicht überlaufen. Doch weniger als zwei Tage später brach der nach 1997 modernisierte Damm von Stronie Slaskie.

Als Folge davon wurden der Bezirkshauptort Klodzko (Glatz) und seine Umgebung überflutet, mehrere Menschen kamen ums Leben. Die historische Altstadt von Klodzko hatte bereits 1997 stark gelitten und war Anfang des Jahrtausends unter anderem mithilfe der EU aufwendig saniert worden. Nun ist ein Streit darüber ausgebrochen, ob Tusks Worte die Menschen in falscher Sicherheit wiegten. Die Regierung, lokale Behörden und die Opposition schieben sich gegenseitig die Schuld dafür zu, dass die Schäden so gross sind.

Apokalyptische Bilder aus überschwemmter Stadt

Den Eindruck eines Kontrollverlustes der Behörden vermittelten nicht nur die apokalyptisch anmutenden Bilder aus der vollständig von braunem Wasser überschwemmten Stadt. Ein Video zeigte zudem eine Gruppe von Männern, die eine Tankstelle plündert. Plötzlich tauchten überall Meldungen über Plünderungen auf, welche die Behörden nur mit Verzögerung dementierten, da ihre Informationsbasis lückenhaft ist. Am Donnerstag hiess es, zehn Personen seien verhaftet worden.

Die Armee führte Patrouillen von Soldaten mit Nachtsichtgeräten in den Hochwassergebieten ein. Die Polizei warnte Diebe vor einer «unbarmherzigen Reaktion der Strafverfolgungsbehörden». Bereits am Tag davor hatte die Regierung eine seit 2002 existierende Form des Katastrophenzustands ausgerufen, die nie zuvor angewendet worden war. Sie gibt ihr weitreichende Befugnisse bei Evakuierungen, der Beschränkung der Bewegungs- und Wirtschaftsfreiheit. Davor waren Meldungen über Wucherpreise bei Gütern des täglichen Gebrauchs in den Überschwemmungsgebieten aufgetaucht.

In Klodzko hat sich die Lage seither etwas beruhigt, die Einwohner der Stadt räumen die Schäden weg. Die Pegel von einigen Flüssen sinken, die Fluten verlagern sich. Neben den Feuerwehrleuten und anderen Helfern sind inzwischen auch 16 000 Soldaten im Einsatz. Überstanden ist die Krise aber noch nicht. Das zeigt sich darin, dass am Mittwoch die Pegelstände an 48 Messstationen nicht nur den Warn-, sondern gar den Alarmwert überschritten. An vier Stellen erreichten die Wassermassen gar einen historischen Rekord.

Unter diesen unübersichtlichen Bedingungen kohärent zu informieren und alle Ressourcen zielführend einzusetzen, ist allein eine riesige Herausforderung. Es lässt sich auch nicht ausschliessen, dass Russland die Unsicherheit für Desinformationskampagnen nutzt, wie dies gewisse Stimmen behaupten. Zudem gibt es zahlreiche Meldungen über Betrüger, welche die Notlage ausnutzen. Doch teilweise drängt sich auch der Eindruck auf, dass der Aktivismus der Politiker die Koordination erschwert und die Nervosität eher vergrössert.

Widersprüchliche Informationen über Dämme in Breslau

Das beste Beispiel dafür ist Wroclaw. Die Oderflut von 1997 verwüstete die prächtige Stadt in Westpolen, weshalb ihr Schicksal besonders stark mit Emotionen beladen ist. Tusk beruhigte auch hier: Grössere Überflutungen drohten nicht, die Dämme würden halten, weil seit 2020 das riesige Rückhaltebecken von Raciborz Dolny die Stadt schütze.

Doch Anfang Woche sagte Tusk plötzlich, die Informationen seien widersprüchlich, und es gebe eine «Kontroverse» um die Bedrohungslage. Offenkundig angesteckt von dieser Hektik, platzte der Bürgermeister von Breslau in die Sitzung des Krisenstabs mit der Meldung, ein weiterer wichtiger Staudamm vor der Stadt stehe kurz vor dem Bruch. Er forderte dringend Helikopter und eine Evakuierung.

Tusk konnte die Information zwar nach wenigen Minuten korrigieren: Es handle sich um einen wesentlich kleineren Damm, der kaum Auswirkungen habe. Doch die Unruhe war angerichtet, die Anspannung in der Stadt ist zusätzlich gewachsen. Inzwischen hat Scheitel des Hochwassers die Stadt erreicht, ohne grössere Schäden anzurichten. Tusk ruft aber weiterhin zur Wachsamkeit auf. Er will sich nicht erneut dem Vorwurf aussetzen, zu früh Entwarnung zu geben.

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