Mittwoch, Januar 15

Die Hochphase des chinesischen Massentourismus in der Schweiz ist womöglich vorbei. Individualtouristen sollen jetzt die Lücke füllen. Doch die Grossgruppen hatten auch Vorteile.

Auf dem Jungfraujoch tummeln sich wieder fast so viele Touristen wie vor der Pandemie. Mehr als eine Million waren es im Jahr 2023, wie die Jungfraubahnen jüngst bekanntgegeben haben. Damit kamen nur 5 Prozent weniger Gäste als im Rekordjahr 2019.

Der Boom ist erstaunlich. Denn eine wichtige Gästegruppe fehlt immer noch weitgehend: die Chinesen. «Im Jahr 2023 besuchten nur rund ein Viertel so viele Chinesen das Jungfraujoch wie vor der Pandemie», sagt Urs Kessler, der Chef der Jungfraubahnen. «Vor allem die grossen Reisegruppen sind erst zögerlich zurückgekehrt.» Bei dieser Kategorie fehlten noch rund 120 000 Gäste, vor allem aus China und Japan.

Teurere Reisen nach Europa

Die gute Nachricht für die Jungfraubahnen lautet, dass sie die Lücke füllen konnten. Statt der Chinesen nahmen im vergangenen Jahr viele Amerikaner, Inder und Koreaner die Bahn aufs Jungfraujoch. «Wir sind breit abgestützt», sagt Kessler.

Dennoch schmerzt das Ausbleiben der Chinesen, die vor der Pandemie die grösste Gästegruppe gewesen waren. Der Schwund hat verschiedene Ursachen. Das Reisen nach Europa kostet für die Chinesen heute um ein Drittel mehr als vor Corona, vor allem weil die Flüge massiv teurer geworden sind. Viele Menschen aus der Mittelschicht können sich eine solche Reise nicht mehr leisten, zumal auch die chinesische Wirtschaft nicht gut läuft. Zudem waren Visa für den Schengen-Raum lange schwierig zu bekommen.

Weniger Gruppen, mehr Individualreisende

In diesem Jahr könnte sich die Situation etwas verbessern. Bei den Jungfraubahnen erwartet man, dass die Zahl chinesischer Gäste im Jahr 2024 rund 55 bis 60 Prozent des Vor-Corona-Niveaus erreichen wird.

Trotzdem vermuten viele Touristiker, dass die Hochphase des chinesischen Massentourismus in der Schweiz vorbei sein könnte. Die Zeiten, als chinesische Grossgruppen für 1000 Euro in einer Woche durch Europa reisten, gehören wohl der Vergangenheit an. Stattdessen sehen viele Touristiker einen anderen Trend: Es kommen mehr Individualreisende und Kleingruppen in die Schweiz, auch aus China.

Luzern hängt nicht von den Chinesen ab

Diese Beobachtung macht man auch in Luzern, einem traditionell beliebten Ziel von asiatischen Touristen. Vor der Pandemie waren die grossen chinesischen Reisegruppen sehr sichtbar gewesen. Sie entstiegen am Schwanenplatz den Reisecars, kauften in den umliegenden Geschäften eine Schweizer Uhr und marschierten weiter zum Löwendenkmal. Das befeuerte in Luzern eine Diskussion über Overtourism.

Doch auch hier sind die Chinesen noch nicht zurück. Im Jahr 2023 lagen die Übernachtungen von Gästen aus China in Luzern erst bei 25 Prozent des Vor-Corona-Niveaus.

Die Chinesen kehren erst zögerlich nach Luzern zurück

Logiernächte nach Herkunftsregion, Vor-Corona-Niveau = 100

Marcel Perren, der Direktor von Luzern Tourismus, hält dies allerdings nicht für tragisch. «Die Anzahl chinesischer Gäste war für uns schon vor Corona kein Mengenrisiko», sagt er. Die Chinesen hätten im Raum Luzern rund 10 Prozent der Übernachtungen ausgemacht. Dem Luzerner Tourismus sei es in den vergangenen Jahren gut gelungen, Gäste aus anderen Weltregionen anzuziehen. Vor allem die Amerikaner seien in die Innerschweiz geströmt wie noch nie. 2023 sei ein gutes Tourismusjahr für Luzern gewesen.

Der Bund will mehr Nachhaltigkeit

Auch Perren sagt, es gebe einen Trend hin zu Individualreisenden. Vor der Pandemie waren rund die Hälfte der chinesischen Touristen in Grossgruppen angereist, also in Reisecars mit 40 bis 50 Personen. Jetzt kommen mehr Touristen nach Luzern, die alleine oder in Kleingruppen unterwegs sind. Dies hat auch mit den gestiegenen Preisen zu tun: Eine Reise nach Europa leisten sich jetzt eher Chinesen mit Reiseerfahrung, höherer Bildung, Sprachkenntnissen und digitaler Affinität. Viele von ihnen sind nicht auf den schützenden Rahmen einer geführten Grossgruppe angewiesen.

Es ist ein Trend, den die Tourismusverantwortlichen aus der Politik und aus der Branche befürworten. Der Bund wünscht sich laut seiner Tourismusstrategie tendenziell weniger Touristen in der Schweiz, die aber länger bleiben und mehr ausgeben. In die gleiche Richtung zielt die Initiative «Swisstainable» von Schweiz Tourismus, die das Land als besonders nachhaltige Destination etablieren will. Man möchte weniger Reisegruppen, die durchs Land hetzen, dafür mehr Individualreisende, die sich Zeit nehmen für die Qualitäten und Naturschönheiten der Schweiz.

Aus geschäftlicher Sicht sind Individualreisende und Kleingruppen für die Tourismusanbieter durchaus attraktiv. «Bei Individualtouristen ist die Wertschöpfung breiter verteilt», sagt der Luzerner Tourismusdirektor Perren. «Es haben nicht nur die Uhrengeschäfte und einzelne Ausflugsziele etwas von ihnen.» Tendenziell würden diese Gäste auch länger im Land bleiben.

«Chinesen sind attraktive Gäste»

Dennoch verteidigt Perren die oft geschmähten Grossgruppen. «Die Chinesen sind prinzipiell attraktive Gäste. Sie geben viel Geld aus in der Schweiz, nur bei den Touristen aus den Golfstaaten ist es noch etwas mehr.» Perren sieht auch Vorteile bei den Reisecars, die vor Corona ein Sinnbild für den Overtourism gewesen waren. Reisebusse seien vergleichsweise ökologische Transportmittel, zudem seien die Grossgruppen geführt und berechenbar. Im Gegensatz dazu seien Individualtouristen meist in Mietautos unterwegs. Sie agierten bisweilen unsicher im Verkehr und parkierten wild.

Urs Kessler von den Jungfraubahnen hält die Grossgruppen ebenfalls für unerlässlich. «Sie sind wichtig für die Grundauslastung. Die grossen Reisegruppen aus China kommen auch in der Nebensaison und wenn schlechtes Wetter herrscht. Sie stornieren nicht kurzfristig wie Individualreisende, die auf den schönsten Tag warten.»

Man verdiene an den Grossgruppen gleich gut wie an den Individualreisenden, sagt Kessler. Deshalb will er weiter um jeden Gast aus China werben. Bereits seit 25 Jahren unterhalten die Jungfraubahnen eigene Vertretungen im Reich der Mitte. Aber ob die Chinesen jemals wieder so zahlreich aufs Jungfraujoch strömen werden wie vor Corona, ist eine offene Frage.

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