Samstag, September 28

Der Wikileaks-Gründer hat in eine Vereinbarung mit der amerikanischen Justiz eingewilligt, um einer Auslieferung in die USA zu entgehen. Porträt eines ungewöhnlichen Aktivisten.

Wer will, kann Julian Assanges Geschichte als Heldenepos lesen. Ein unerschrockener Rebell deckt Missstände auf und setzt zu einer spektakulären Flucht vor der amerikanischen Justiz an. Er verbringt Jahre in den engen Räumlichkeiten seiner Refugien. Und nun kommt er nach dem Vergleich mit den USA frei.

Assange geniesst die Sympathien linker und rechter Aktivisten, da er traditionelle Machtstrukturen aufzubrechen versuchte. Seine Kritiker aber sehen in Assange einen rücksichtslosen Selbstinszenierer, der sich nie um die Konsequenzen seiner Handlungen geschert hat und nur am Zuwachs seiner Macht und seines Egos interessiert ist.

Hightech-Revolutionär oder Selbstinszenierer?

Assanges Leben gleicht von Anfang an einer Irrfahrt. Zur Welt kommt er 1971 im australischen Gliedstaat Queensland. Die Mutter und der Stiefvater ziehen als Direktoren eines Wandertheaters durchs Land, mit 18 Jahren wird der unstete Julian ein erstes Mal Vater. Sein mathematisches Talent und seine rebellische Natur äussern sich in einer frühen Faszination für das Internet: 1995 wird er erstmals wegen Hacker-Aktivitäten gebüsst.

Zehn Jahre später gründet er die Plattform Wikileaks, eine Art Online-Briefkasten, in den Whistleblower ganze Datenpakete einwerfen können. Die Kernidee: Informationen über öffentliche Angelegenheiten sollen im Internet frei verfügbar sein. Da Wikileaks die Überbringer der Dokumente dank technischen Vorkehrungen nicht erkennt, kann Assange seinen Quellen Anonymität zusichern.

Assange zieht um die Welt und leitet Wikileaks von immer neuen Standorten aus. Es ist die Zeit, als das Internet Hoffnungen auf eine demokratische Revolution nährt. Den hageren, blassen Aktivisten mit Sonnenbrille und weiss-blonden Haaren umweht die Aura eines Underground-Rockstars.

Heikler Datenberg zum Afghanistan-Krieg

Im Jahr 2010 wartet Wikileaks mit spektakulären Enthüllungen auf und geht auf Konfliktkurs mit den USA. Zu den Datenlecks gehört das «Afghan War Diary». Wie sich herausstellen wird, handelt es sich um ein Datenpaket aus dem Schatz der Whistleblowerin Chelsea Manning, die vor ihrer Geschlechtsumwandlung als Gefreiter Bradley Manning bekannt war.

Die Publikation der riesigen Sammlung geheimer Daten ist zweifellos von öffentlichem Interesse. Medienschaffende rekonstruieren auf Grundlage dieser Daten ein Bild des amerikanischen Afghanistan-Kriegs, das weitaus düsterer wirkt als die offizielle Version: Die Taliban leisten immer aggressiveren Widerstand, und die USA setzen vermehrt auf Drohnen, Luftangriffe und paramilitärische Geheimdienstoperationen. Dabei nehmen sie immer mehr zivile Opfer in Kauf. Doch Assange lässt jegliche Sensibilität für die menschlichen Folgen der Publikation vermissen und willigt erst auf Druck von Mitarbeitern in eine notdürftige Überarbeitung der Daten ein.

Wikileaks veröffentlicht weitere Daten über Giftmüll an der Elfenbeinküste, Geheimdokumente zum Gefangenenlager in Guantánamo oder Bilder amerikanischer Luftangriffe mit zivilen Opfern in Bagdad. Mit der Datensammlung namens «Cablegate», die Depeschen amerikanischer Diplomaten aus aller Welt enthält, bringt Assange das Washingtoner Establishment definitiv gegen sich auf. Aussenministerin Hillary Clinton spricht von einem «Angriff auf die internationale Gemeinschaft».

«Wir wollen den Journalismus zerstören»

Julian Assange sah und sieht sich als Verteidiger der Pressefreiheit gegen sein Feindbild USA. Er ist aber alles andere als ein herkömmlicher Journalist und Publizist, wie er 2017 in einem Gespräch mit dem Magazin «New Yorker» selber deutlich machte. «Wir wollen den Journalismus nicht retten, sondern zerstören», erklärt er. Der Journalismus müsse «bis auf die Asche niedergebrannt» werden, bevor eine neue Struktur entstehen könne. «Denn der asymmetrische Informationsstand zwischen Schreiber und Leser stiftet zur Lüge an.»

Journalismus basiert auf einem Vertrauensverhältnis zwischen Journalisten und ihren Quellen, aber auch zwischen Journalisten und ihrem Publikum. Doch Assange ist eine zutiefst misstrauische Person. Wikileaks setzt nicht auf Vertrauen. Das Geschäftsmodell basiert gänzlich auf anonymen, ungefilterten Leaks, ohne Einordnung, ohne Vorkehrungen, um unbeteiligte Personen vor möglichem Schaden zu schützen. Vielleicht hätte die Geschichte Julian Assanges eine andere Wendung genommen, wenn er als Publizist mehr journalistische Sorgfalt hätte walten lassen.

Vergewaltigungsvorwürfe in Schweden

Seine vielleicht folgenschwerste Fahrt tritt Assange im Sommer 2010 nach Schweden an, wo er im Gespräch mit Politikern eine neue Basis für Wikileaks finden will. In Stockholm hat Assange ungeschützten Geschlechtsverkehr mit zwei jungen Frauen, obwohl diese auf die Verwendung eines Kondoms bestanden hatten. Sie erkundigen sich deshalb später bei der Polizei, ob Assange zu einem HIV-Test gezwungen werden könne. Aufgrund ihrer Aussagen leitet die Justiz Verfahren wegen Sexualdelikten ein.

Für Assange und seine Anhänger steht sogleich fest, dass die Vorwürfe ein Komplott darstellen und einzig dem Zweck dienen, ihn der amerikanischen Justiz zuzuführen. Dass sich der Aktivist im Privatleben als frauenfeindlicher Egomane entpuppen könnte, sprengt die Vorstellungskraft seiner Sympathisanten. Anna Ardin, eines der beiden mutmasslichen Opfer, wies 2021 in einem Buch die Komplott-Theorie zurück und beschrieb die massiven Anfeindungen, die sie von Assanges Fans erdulden musste.

Assange setzt sich nach London ab, worauf Schweden im November 2010 einen Europäischen Haftbefehl erlässt. Als er seine letzten Rechtsmittel gegen die Auslieferung in das skandinavische Land ausgeschöpft hat, beschliesst er 2012, in einem mit ihm sympathisierenden Staat um Asyl zu ersuchen. Als Motorfahrradkurier verkleidet, betritt er unter Verletzung seiner Kautionsauflagen die ecuadorianische Botschaft in London – und begibt sich damit in eine Falle.

Der Coup aus der Isolation heraus

Sieben Jahre lang sitzt Assange in den engen Räumlichkeiten der Botschaft fest. Das Gebäude wird von Polizisten bewacht; Assanges Hoffnung auf eine Ausreise nach Südamerika realisiert sich nie. Er empfängt Anhänger in der Botschaft und ahnt, dass die Überwachungskameras gehackt sein könnten, was seine Angstzustände befeuert. Er fürchtet sich vor einer Auslieferung in die USA. In diesem Klima der Unsicherheit gedeiht die Beziehung zu Stella Morris, die unter strenger Geheimhaltung zwei Jungen zur Welt bringt.

Während seiner Isolation und mitten im amerikanischen Wahlkampf von 2016 verbreitet Wikileaks E-Mails der Demokratischen Partei, die Hillary Clinton schaden. Das trug Assange den Vorwurf ein, er habe mit Russland konspiriert, um dem Isolationisten Donald Trump zur Wahl zu verhelfen. Assange sagt, er habe die gehackten E-Mails nicht von russischer Seite erhalten. Doch trotz seiner libertären Rhetorik hat sich Assange an Putins Autoritarismus nie gestört. Vielmehr hält er Russland für ein Gegengewicht zu den USA, weshalb er sich schon 2012 vom Propagandasender Russia Today als Moderator einer Talkshow einspannen liess.

Ein freier, gebrochener Mann

Mit dem Rücktritt von Präsident Rafael Correa verliert Assange den Schutz Ecuadors. Correas Nachfolger Lenín Moreno erteilt der Londoner Polizei 2019 die Erlaubnis, Assange in der Botschaft festzunehmen. Seither sass er in London wegen Fluchtgefahr in Haft.

Zwar stellte Schweden im Jahr 2019 das Verfahren gegen Assange ein, da die Beweislage im Lauf der Zeit dünner geworden sei. Doch drohte die Auslieferung in die USA, die Assanges Anwälte mit allen verfügbaren Rechtsmitteln abzuwenden versuchten. Doch mit jeder Zusatzrunde vor Gericht verlängerte sich Assanges Haft, bis es jüngst erste Anzeichen für eine politische Lösung gab. So erklärte Präsident Joe Biden, seine Regierung prüfe die Forderung Australiens, Assange in sein Heimatland ausreisen zu lassen.

Die nun getroffene Vereinbarung von Assanges Anwälten mit den amerikanischen Behörden ist auch eine Genugtuung für Stella Morris, die unermüdlich für die Freilassung von Assange gekämpft hat und das Heldenepos damit um eine tragische Liebesgeschichte bereicherte.

Die 40-Jährige ist die Gattin des 52-jährigen Assange, gemeinsam zeugten sie zwei Söhne, als sich der Wikileaks-Gründer zwischen 2012 und 2019 in der ecuadorianischen Botschaft in London dem Zugriff der Justiz entzog. Im März 2022 konnten sich die beiden in einer kleinen Zeremonie im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh im Süden Londons das Ja-Wort geben. Die aus Südafrika stammende Anwältin setzte sich unermüdlich für die Freilassung ihres Gatten ein.

Nun ist der Wikileaks-Gründer tatsächlich auf dem Weg in die Freiheit – doch geht er auch als Gewinner aus der Geschichte hervor? Julian Assange wirkt nach den 7 Jahren Haft in Grossbritannien gebrochen. Der ehemalige Uno-Sonderberichterstatter für Folter Nils Melzer hat die Haft mit psychologischer Folter verglichen.

Die Vereinbarung mit der amerikanischen Justiz erfordert ein limitiertes Schuldeingeständnis. Doch hat Assange bis anhin nie die Einsicht erkennen lassen, dass er auf seinen Irrfahrten das Seine zu seinem tragischen Schicksal beigetragen hat.

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