Dienstag, Oktober 8

In diesen Tagen jährt sich das Ende der norditalienischen Partisanenrepublik Ossola zum 80. Mal. In Domodossola und im Onsernonetal sind die Ereignisse aus dem Zweiten Weltkrieg immer noch sehr präsent.

Eine Stunde und siebzehn Minuten braucht das Postauto von Locarno ins hinterste Onsernonetal – eines der steilsten und schönsten Täler des Tessins. Ganz am Ende des Tals liegt die winzige Ortschaft Spruga. Auf einem gut ausgebauten Fussweg erreicht man von hier aus in etwa einer halben Stunde das Ufer des Flusses Isorno und die Grenze zu Italien. Auf der italienischen Seite des Flusses liegen die Ruinen des ehemaligen Kurbades Bagni di Craveggia.

An diesem abgelegenen Ort im Wald wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Kurbad errichtet, das 1951 von einer Lawine zerstört wurde. Die Bagni di Craveggia waren 1944 Schauplatz einer Grenzverletzung durch die Deutschen und die faschistischen Truppen Italiens. Der Zwischenfall vom 18. Oktober 1944 ging als «Battaglia dei Bagni di Craveggia» in die Geschichtsschreibung ein.

Auf Schweizer Boden getötet

Einer der letzten lebenden Zeugen dieser bewegten Zeit ist der heute 92-jährige Lino Mordasini. Er kann sich noch gut an die damalige Stimmung erinnern: «Es war für uns Kinder eine aufregende Zeit. Es waren fast nur Frauen und Kinder im Tal, die Männer waren entweder beim Militär oder auswärts an der Arbeit. Das Tal bot schon lange kein Auskommen mehr.»

Die hier stationierten Soldaten der Grenzbrigade 9 und des Grenzwachtkorps IV sorgten für Abwechslung und verteilten seltene Leckereien: «Wir haben von ihnen Schokolade bekommen, was es bei uns sonst nie gab», weiss Lino Mordasini zu berichten.

Wenige Schritte von dem Fluss und der Grenze entfernt steht ein schlichtes Gedenkkreuz. Es ist dem Partisanenoffizier Federico Marescotti aus Mailand gewidmet, der hier am 18. Oktober 1944 auf Schweizer Boden, wenige Meter nach der italienischen Grenze, getötet wurde. Der Zwischenfall forderte später ein zweites Todesopfer, Renzo Coen aus Genua. Er erlag im Spital von Locarno seinen schweren Verletzungen. Coen war einer der wenigen jüdischen Partisanen, von denen wir heute wissen.

Schwer verletzt überlebte der Partisanenkommandant Adriano Bianchi, der vor der Zwangsrekrutierung durch die italienischen Faschisten in die Schweiz geflüchtet war und sich später den Partisanen anschloss. Seine Erinnerungen hat er im Buch «Die Brücke von Falmenta»* festgehalten, das in diesen Tagen in einer deutschen Übersetzung erscheint.

Was war vorgefallen? Die Partisanengruppe, zu der auch deutsche und georgische Deserteure gehörten, befand sich wegen der anrückenden Wehrmacht auf dem Rückzug. Diese war im Begriff, die Gegend von Ossola wieder unter faschistische Kontrolle zu bringen. Auf der Flucht hatten die Partisanen bereits ihre schweren Waffen und ihre Munition verloren und baten die Schweiz schon am 13. Oktober 1944 um Internierung, wie es im Völkerrecht vorgesehen ist. Diesem Ersuchen wurde nicht stattgegeben, da keine unmittelbare Lebensgefahr bestand.

In den folgenden Tagen verschärfte sich die Lage, und die Schweizer Truppen einigten sich mit den Partisanen, auf welchen Wegen sie die Grenze vor den anrückenden faschistischen Soldaten überqueren sollten. Der Schweizer Leutnant Augusto Rima verfasste darüber einen ausführlichen Bericht. Seine Erinnerungen sind auch in diesen Artikel eingeflossen. In der Zwischenzeit wurden die Schweizer Verbände verstärkt. Am 18. Oktober 1944 überschritten die Partisanen die Grenze, um 16 Uhr eröffneten die faschistischen Truppen, die ihnen dicht auf den Fersen waren, das Feuer.

Nach Augenzeugenberichten handelte es sich bei den Verfolgern um 200 faschistische italienische Soldaten, die von einigen SS-Männern verstärkt wurden. Das Feuer muss heftig gewesen sein: In kurzer Zeit wurden zwischen 25 000 und 30 000 Schuss abgefeuert, viele Geschosse schlugen auf Schweizer Boden ein, eine klare Grenzverletzung. Nach dem Schusswechsel, kurz vor 17 Uhr, verlangte Ettore Falangola, Kommandant der faschistischen Truppen, ultimativ die Auslieferung der geflüchteten Partisanen «vivi, morti o feriti» (lebendig, tot oder verwundet).

Der Schweizer Kommandant lehnte dieses Ansinnen ab und drohte mit Waffengewalt im Falle einer weiteren Grenzverletzung. In der Nacht wurde auf Schweizer Seite das Dispositiv verstärkt. Die 256 geflohenen Partisanen waren sofort nach Locarno in ein Durchgangslager gebracht worden, damit waren sie ausser Reichweite. Die faschistischen Truppen zogen ab, auch die Verstärkung auf Schweizer Seite wurde wieder abgezogen, zurück blieben die Tessiner Grenadiere.

Sie halten die Erinnerung an diesen Tag wach und entsandten auch eine Delegation an die 80-Jahr-Feier, die am Sonntag, dem 28. Juli 2024, in Spruga stattfand. Bei dieser Gelegenheit wurde auch eine neue Gedenktafel eingeweiht. «Für die Gerechtigkeit sind sie aufgestanden – für die Freiheit sind sie gefallen», steht darauf.

Demokratisches Experiment brutal beendet

Die zweite Etappe auf der Suche nach den Spuren des Partisanenkampfs führt uns nach Domodossola. Schon am Bahnhofplatz finden wir das erste Denkmal aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Grosse Gedenktafeln befinden sich auch im Hof des Stadthauses, und im Ratssaal ist eine Ausstellung über die Repubblica Ossola von 1944. Wir besichtigen den Saal mit Gianfranco Fradelizio. Er war bis 2023 Präsident der Sektion Domodossola der Associazione Nazionale Partigiani d’Italia, der nationalen Partisanenvereinigung. Heute ist er noch Präsident der Casa della Resistenza im nahen Verbania.

Vom 10. September bis zum 23. Oktober 1944 errichteten die italienischen Partisanen im Ossolatal eine befreite Zone, nachdem sie die ganze Region unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Das ist erstaunlich, da sich die verschiedenen Gruppen teilweise feindlich gegenüberstanden. Die provisorische Regierung organisierte mit grossem Elan das zivile Leben, führte Pressefreiheit ein, druckte eigene Briefmarken und organisierte die Schulen. Einige der Originalakten und Dokumente vom Oktober 1944 sind im Ratssaal des Stadthauses ausgestellt.

Die Schweiz spielte für dieses demokratische Experiment eine wichtige Rolle: Nicht wenige der neuen Politiker, allen voran der Präsident und spätere italienische Senator Ettore Tibaldi, waren aus ihrem vorübergehenden Schweizer Asyl zurückgekehrt. Delegationen aus dem Tessin statteten der provisorischen Regierung Besuche ab. Eine Gruppe von 1500 Kindern, von ihnen 600 ohne Begleitung ihrer Eltern, durfte zur Erholung in die Schweiz reisen.

Aber schon am 10. Oktober 1944 begann die Rückeroberung des Ossolatals durch die italienischen Faschisten, unterstützt von deutschen Truppen. Die 3000 Partisanenkämpfer waren in dieser Art von Kämpfen unerfahren, und am 14. Oktober 1944 übernahmen die Faschisten wieder die Kontrolle über die Hauptstadt Domodossola, am 17. Oktober floh auch ein Grossteil der Regierung, und am 23. Oktober wurde die Republik formell aufgelöst.

Viele der Partisanen waren gefallen, viele waren geflohen. Die Schweiz nahm Tausende von Flüchtlingen aus der Region auf, Partisanen wie Zivilisten. Die Kinder, die zur Erholung in die Eidgenossenschaft gereist waren, konnten bis Kriegsende bleiben. All das habe man im Ossolatal nicht vergessen, bestätigt Gianfranco Fradelizio.

Seinen Vater lernte er nie kennen. Dieser wurde kurz nach der Geburt seines Sohnes am 30. Juni 1944 erschossen, als er unbewaffnet mit einem Maultier Lebensmittel für die Partisanen transportierte. Auf der Gedenktafel für die gefallenen Partisanen im Park der Casa della Resistenza im nahen Verbania zeigt er uns den Namen seines Vaters: Luigi Fradelizio. Wir beenden unseren Rundgang durch das historische Städtchen mit einem Besuch auf dem Friedhof: Hier finden wir zwei Reihen mit Gräbern getöteter Partisanen, die nur einen kleinen Teil der Opfer des Partisanenkrieges ausmachen.

Der Kampf der italienischen Partisanen im Zweiten Weltkrieg ist Gegenstand einer ausgeprägten Heldenverehrung und Mythenbildung. Das ist in Domodossola und anderen Orten offensichtlich, und es ist auch eine These des Tessiner Historikers Raphael Rues, der an einer Dissertation zu jener Zeit arbeitet und verschiedentlich zur Ossola-Republik publiziert hat. Seine Informationen vermitteln uns einen nüchterneren Blick auf diese bewegte Zeit.

Hinter der Idee der Gründung der Republik Ossola steckte der amerikanische Diplomat Allen Dulles, damals Vertreter des US-Geheimdienstes OSS (Office of Strategic Services), der Vorläuferorganisation der heutigen CIA. Er war ab November 1942 an der Botschaft der USA in Bern stationiert und koordinierte die Kontakte zu verschiedenen Widerstandsgruppen in den besetzten Gebieten. Nachdem der Vorstoss der Alliierten über Italien langsamer verlaufen war als erhofft, hatte der Kampf in Norditalien Ende August 1944 keine Priorität mehr. Das schlug sich auch in der nachlassenden Unterstützung der Ossola-Partisanen nieder. Die beiden eigens angelegten Flugfelder wurden nie genutzt, auch die von den Alliierten versprochenen Waffenlieferungen blieben aus.

Die Haltung der Schweiz gegenüber den flüchtenden Partisanen und Zivilisten war weniger einheitlich, als man aufgrund der Fotos jener Tage annähme: Zum Teil wurden sie mit offenen Armen empfangen, zum Teil wurden sie abgewiesen. Oft hing es auch von den jeweiligen Grenztruppen ab, wobei die Tessiner und die Walliser offener waren als die Deutschschweizer, wie Rues sagt. Trotzdem: Rues geht davon aus, dass die Schweiz, vor allem das Wallis und das Tessin, mindestens 10 000 bis 15 000 Menschen Rettung bot, die sonst in deutsche Arbeitslager deportiert oder gleich an Ort und Stelle erschossen worden wären.

Adriano Bianchi: Die Brücke von Falmenta. Partisanen zwischen Italien und der Schweiz 1944. Verlag Edition 8, Zürich 2024.

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